ONLINE-EXTRA Nr. 140
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Hält man sich die jüngsten Debatten um eine "jüdisch-christliche Kultur", "jüdisch-christliche Traditionen" und/oder das "jüdisch-christliche Erbe" Europas vor Augen, und denkt man ebenfalls etwa an die jüngst eher beschämenden, rat- und orientierungslosen Reaktionen in Europa sowie den USA auf die politischen Umbrüche im arabischen Raum, oder aber betrachtet man die schwierigen Diskussionen um die Integration muslimischer Einwanderer sowie die Auseinandersetzung und den Dialog mit der Kultur und Religion des Islam insgesamt, hält man sich dies alles vor Augen, könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, als seien dem "freien Westen" die eigenen politischen, kulturellen und geistegeschichtlichen Grundlagen und Werte nicht mehr präsent, die sie selbst einst kreierten. Weiß Europa noch, was Europa ausmacht? Wissen die westlichen Demokratien noch um die Werte und Normen, mit denen sie selbst einst gebaut wurden? Ist das Gewissen Europas sich noch der moralischen, ethischen und kulturellen Werte und Normen bewußt, denen es seine eigene Existenz verdankt?
Der nachfolgende Text des evangelischen Theologen Martin Stöhr - obwohl bereits vor gut zehn Jahren entstanden - liest sich streckenweise fast wie eine aktuelle Antwort auf die skizzierte Rat- und Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Werte, die uns bei der Gestaltung von Welt und Gesellschaft anleiten könnten und sollten. Als christlicher Theologe tut er dies natürlich in Reflektion auf die religiösen Grundlagen unserer Geschichte und Existenz - und als Pionier des christlich-jüdischen Dialogs tut er das natürlich unter Einbeziehung der Wurzeln des Christentums selbst, nämlich des Judentums und Israels. Programmatisch heißt es an einer zentralen Stelle seines Essays:
"Europa hat drei Hauptstädte: Jerusalem, Athen und Rom. Die Namen stehen für drei Erbschaften, die oft genug verraten wurden In ständiger und lebenfördernder Innovation schuldet Europa noch immer, an der Verwirklichung und Ausdifferenzierung dieses Erbe angesichts neuer Herausforderungen zu arbeiten. Noch machen die Erbschaften Europa nicht zu dem, was es in der Welt sein kann – gemessen an den positiven Seiten dieses Erbes. Aber ein Anfang ist gesetzt, der auf Weiterführung aus ist."
Um authentisch und glaubhaft überhaupt von "jüdisch-christlicher" Tradition oder Kultur zu sprechen oder um solide Orientierung in der Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen zu gewinnen, bedarf es sicher einer Selbstvergewisserung der eigenen Wurzeln, als deren Bestandteil auch die "Suche nach einem europäischen Gewissen" verstanden werden kann.
Stöhrs Beitrag erschien gedruckt erstmals in: Emporfliegende Buchstaben. Das Zeugnis der Tora während des Nationalsozialismus und die Suche nach einem europäischen Gewissen, hrsg. v. Katja Kriener und Gerard Minnaard, Erev-Rav Verlag, 2003.
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 140
"Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unauflöslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen...Eine Verstossung der Juden aus dem Abendland muss die Verstossung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude".
(Dietrich Bonhoeffer 1941)
I
Die jüdischen Gemeinden Europas sind älter als die christlichen. Die Tora vom Sinai, die Stimmen vom Zion oder die Aufzeichnungen aus der Deportation in Babylon wurden schon in Europas "heidnischer" Zeit gehört, gelebt und gelernt. Als Spurenelemente waren sie in den jüdischen Gemeinden lebendige Quellen einer Gewissensbildung, so bruchstückhaft sie auch erst als Vorläufer und Urelemente aller Schriften, des ganzen TaNaK, der werdenden Bibel überliefert wurden. Das Israel gegebene Gesetz ist nicht zu fern und nicht zu schwer, es ist nun nicht mehr im Himmel....auch nicht jenseits des Meeres (5.Mose 30,13). Es ist, dank Israel, auf seinem Praxisfeld angekommen, auch mitten unter den Völkern Europas.
Das jüdische Volk war seit Abrahams Zeiten von seinem Gott und dem Gott der Völker nicht ohne Orientierung geblieben. Die Wüste, nach alter rabbinischer Tradition wie Feuer, Wasser und Luft, allen zugänglich, lässt die Tora für alle zugänglich werden. Sie war allen angeboten. Israel nimmt sie an. Das ist Erwählung. Sie verliert die Völker nicht aus dem Blick. Der Segen an Abraham, allen zugänglich, gilt allen Geschlechtern der Erde und nicht zuletzt Ismael, dem Erstgeborenen – wenn die Völker, vor allem Kirche und Islam, nicht Israel fluchen (1.Mose 12,3). Billig ist der Zugang zu Israels Segen und Tora nicht. Er verliert sich, wenn die Solidarität mit Israel fehlt.
Als Tora für die Völker wird sie in den sieben noachidischen Geboten noch einmal kurz von den Rabbinen zusammengefasst: Das geschieht in einer Zeit schärfster Repression durch Rom, nach der Zerstörung Jerusalems, das jetzt Aelia Capitolina heissen muss, nach der Vertreibung aus Judäa, das zum Vergessen des jüdischen Volkes jetzt Palästina genannt wird. Es ist das erste und nicht das letzte Mal, dass die Tora zum portablen Vaterland (Heinrich Heine) wird. Das bedeutet aber nicht, dass Gott für die Völker nichts zu sagen hätte. Auch die Feinde Israels sind angesprochen. Die sieben noachidischen Gebote gebieten Rechtspflege, verbieten Götzendienste, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergiessen, Raub und das Essen vom lebenden Tier. Diese Bündelung der Weisung Gottes für alle Völker wird zur Grundlage des Kompromisses zwischen Paulus auf der einen und Petrus mit der Jerusalemer Urgemeinde auf der anderen Seite (Ap.Gesch.15).
Gott als den Schöpfer und Vollender der ganzen Welt zu begreifen, heisst auch, zu erfahren und zu lernen, was das Konzept ausmacht, die Wegweisung also, wie diese Welt zu gestalten und zu verwalten ist – im Sinne dessen, der sie weder fallen lassen noch sich selbst überlassen will. Hätte er sie sich selbst überlassen, unterläge sie einer naturwüchsigen Entwicklung, lieferte die Welt und ihre Menschen der Zerstörungskraft von Ungerechtigkeit und Gnadenlosigkeit aus. Deren Gegenteil, Gerechtigkeit und Liebe, ist der Weg der Befreiung in einer Welt, in der schon dem Kain gesagt wird, über die Bosheit zu herrschen (1.Mose 4,7) und sich nicht mit und durch Ungerechtigkeiten oder Gnadenlosigkeiten unfrei machen zu lasen. Dieses Programm ist eine nicht abgeschlossene Kulturaufgabe. Alle Religionen haben hier ihren Beitrag zu leisten. Gemessen wird nicht das Rechthaben, sondern das Rechttun, weil und wenn alles, was geschieht oder unterbleibt, verantwortet werden muss.
Die Grenzen des göttlichen und des toragemässen Handelns der Menschen sind nicht identisch mit den Grenzen Israels (auch nicht der Kirche!). Gott hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ausserhalb ihrer Strukturen und Positionen. Die Bibel beginnt, denkt und endet in einer universalen Perspektive.
II
In diesem Universum und seiner Geschichte, in die hinein Israel um Zeugendienst berufen ist, gibt es kein Gestaltungsvakuum. Es füllt sich sofort sozialdarwinistisch mit dem "Naturgesetz" eines Rechtes der Stärkeren als der herrschenden Weisung für die Lebens- und Weltgestaltung. Die Bibel nennt Mächte und Gewalten, Götzen und Mammon, die sich in jedem drohenden Vakuum breit machen werden, um ihrerseits das Leben, Zusammenleben und Überleben der Menschen - privat wie öffentlich – zu regeln. Dagegen tritt die Tora als Inbegriff von GottesWelt- und menschenfreundlichem Willen an. Sie zielt auf ein sinnvoll erfülltes Leben. Ihre Gestaltungskraft ist ebenso kreativ wie kritisch, weil Gott die Menschen, als ihre Trägerinnen und Träger, mit eben solcher Kritikfähigkeit und Kreativität ausgestattet hat. Schliesslich sind sie mit dem Dominium Terrae, der Verantwortung für Welt und Geschichte, beauftragt. Das ist eine Bestimmung zum Leben und nicht zum Tode.
Den Herrschaften des Todes, mit seinen stets servilen Menschen und Strukturen ausgestattet, setzt die biblische Botschaft in allen Kontinenten und Epochen die Alternative Stärke des Rechtes entgegen. Und zum Recht gehören biblisch Gerechtigkeit und Menschenrechte, die sich der Tatsache verdanken, dass jeder Mensch seinen singulären Wert als Ebenbild des singulären Gottes hat. Jede und jeder ist unersetzbar und kostbar, nach den Gesetzen des Marktes nicht billiger zu (be)handeln, je massenhafter sie/er vorkommt. Christlich-dissidentisch werden in der Verfassungsgeschichte der USA die Menschenrechte formuliert. In der französischen Revolution geschieht es antikirchlich, da sich die Kirche mit den herrschenden Mächten und nicht mit den Armen verbündet hatte. Aber auch hier werden die Menschenrechte in biblischen Termini wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit formuliert. Jede und jeder ist fähig und beauftragt an diesem Auftrag mitzuarbeiten. Der biblische Gedanke der Gleichheit aller Menschen hat mehr Affinität zur neuzeitlichen Demokratie als die hellenistischen oder römischen Vorformen, die prinzipiell Sklavenhaltergesellschaften waren.
Darwin mit seiner These vom survival of the fittest wird hier nicht zur Schande des gottesfürchtigen und schöpfungsfrommen Forschers erwähnt, sondern zur Kritik seiner nachfolgenden Weltbildhauer. Sie verhelfen intellektuell und politisch, religiös und alltäglich jener Anti-Tora zu Legitimität und Attraktivität, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland siegt. Sie geht von der prinzipiellen Ungleichheit der Menschen aus. Ihr Sieg kommt nicht durch die Stärke der nationalsozialistischen Bewegung zustande, sondern durch dir Schwäche, genauer: das Dulden, Wegschauen und Mitlaufen derer, die die Tora nicht in die politische und ökonomische Realität tragen, sondern im Herzen bewahren. Aus dem Quentchen Nichtübereinstimmung mit der Machtabern flechten sie später sich ihre Widerstandslorbeeren, statt zu analysieren, wie stark auch partielle Übereinstimmungen die Staatsideologie des Antisemitismus und Rassismus förderten. Die Mehrheit der Deutschen wählt 1933 eine Regierung aus Nationalsozialisten und Deutschnationalen. In unterschiedlicher Dosierung hält man schon vor 1933 eine autoritäre Staatsform für besser als die Mühsal der Demokratie. Die Überlegenheit des eigenen Volkes gegenüber den anderen ist weit verbreiteter Common Sense. Gehorsam wird mehr geschätzt als Zivilcourage. "Wir wollen uns selbst!" In diesem Satz bündelt 1933 der neugewählte Rektor der Universität Freiburg, Martin Heidegger, seine angepasste Weltanschauung im Gewand der Wissenschaft. Und das in einer Universität, über deren Haupteingang das Wort des Juden Jesus steht: "Die Wahrheit wird euch freimachen!" (Joh.8,32). Die Nazis müssen nichts neu erfinden. Sie müssen die vorgefundenen Erbschaften nur zu einer "Weltanschauung" zusammenfügen und bewaffnen.
Rar aber ist die Freiheit von Anpassung oder Gewalt, von Gleichgültigkeit oder Verachtung der Minderheiten. Selten wird Gottes Wort zur Wegweisung in den Widerstand, häufiger zum Hinweis auf Nischen der Innerlichkeit. Europa wird zerstört und Auschwitz in seiner Mitte zum grössten jüdischen Friedhof. Zur gleichen Zeit schreibt Thomas Mann seine Trilogie Josef und seine Brüder sowie die Novelle Das Gesetz. Ist das Gesetz, der Fels des Anstandes...das A und O des Menschenbenehmens...gerichtet an Israel so ist es doch eine Rede an alle. Er ist längst mit den Nonkonformisten ins Exil vertrieben. Die Opponenten gehen in den Untergrund und Widerstand. Der Polizist, der den letzten Juden in Siegen verhaftet, um ihn nach Buchenwald zu deportieren, sagt "Wissen Sie denn nicht, das die Zehn Gebote nicht mehr gelten?". Man kennt sich als Nachbarn sehr gut. Aber eine Gesetzlosigkeit, die zwölf Jahre mit über 2000 Erlassen und Gesetzen das Leben des Volkes der Tora stranguliert, regelt auch die Unmenschlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft - auf Kosten der Minderheit. Das Gewissen wird durch Macht und Mehrheit reguliert.
III
Hitler hält das Gewissen für eine jüdische Erfindung. Um gewissenlos handeln zu können, sucht er jenes Volk zu vernichten, in dem die Tora mit der Erfahrung der Befreiung von aller Fremdbestimmung und mit der Verantwortung und Würde zur Welt kam. Diese Gaben setzen bei den Menschen die entsprechenden Aufgaben und Möglichkeiten frei.
In Europa hat eine zuerst christlich, später auch wirtschaftlich und völkisch daher kommende Judenverachtung auf eine seit langem eingeschliffene Desavouierung der Gebote Gottes aufbauen können. Hatte nicht die christliche Tradition Gesetz und Gesetzlichkeit in einem diffamierenden Sinn als Kern des Alten Testamentes verstanden? Ist es nicht triumphal durch das Christentum überholt, weil als typisch jüdischer Wege zu Gott, ausgemustert? Ist nicht die Tora-Auslegung Jesu in der Bergpredigt zum Beichtspiegel oder zur Spezialethik für Heilige geschrumpft, weil nicht praktizierbar? Hat man nicht aus den dominanten Naturwissenschaften Gesetze der Geschichte extrapoliert, die einen marxistischen oder kapitalistischen Fortschrittsglauben nahelegen, der die, die so nicht fortschreiten wollten, als dumm oder bösartig zu bekämpfen heisst und die Mehrheit der anderen zu Mitläufern einer doch "naturhaft" ablaufenden Geschichte macht? Wer will sich schon der Natur und ihren vermeintlich ehernen Gesetzen widersetzen?
Ist nicht Nietzsche, der auf der einen Seite seinen Anti-Antisemitismus als entschiedener Europäer begründete, auf der anderen Seite mit jenen Ideen brauchbar (und nicht nur missbraucht) geworden, in denen er schreibt Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich...Dort war's auch, wo ich das Wort 'Übermensch' vom Wege auflas, und dass der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse...Also heischt es meine grosse Liebe zu den Fernsten: Schone deinen Nächsten nicht! Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss...O meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln! (Also sprach Zarathustra III,1f) f). Hat er nicht dem biblischen Grundsatz der Gleichheit aller Menschen leidenschaftlich widersprochen? Er sieht die Sünde als ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung...(es war) die christliche Moralität darauf aus, die Welt zu 'verjüdeln'. Bis zu welchem Grad ihm das in Europa gelungen ist, das spürt man an dem Grad der Fremdheit, den das griechische Altertum – eine Welt ohne Sündengefühle – immer noch hat. (Die fröhliche Wissenschaft III;135). Das erste Gebot ist nicht nur in einer Freiheitserfahrung begründet, es leitet alle Wegweiser in Richtung Freiheit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. Es zeigt die überbrückbare Kluft zwischen dem, was ist und dem was sein wird und sein soll. Das ist etwas anderes als ein Sündengefühl.
Als 1965 einige Studenten deutsche Professoren befragen, die vor wie nach 1945 an der Universität lehrten, da antwortet einer von ihnen Mein damaliges Versagen ist daraus zu verstehen, nicht zu entschuldigen: Ich habe vor Menschen mehr Furcht gehabt als vor Gott. Das Gewissen hatte vor Menschen kapituliert, die Macht über andere haben. Anders gesagt, das Gewissen leiht sich sein Programm von den Mächtigen. Es beraubt sich selbst der Freiheit, die den Anfang der Weisheit in der Furcht Gottes verankert (hiob 28,28, Ps 111,10). Der russische Satiriker Michail Saltykow, (1826-1889) schildert in seiner Novelle Das verlorene Gewissen, auf welch banale Weisen im Alltag das Gewissen abhanden kommen kann. Die Folgen liegen zutage: So brauchte man denn von da ab nichts weiter, als in Gottes Welt zu gaffen und vergnügt zu sein. Die Weisen der Welt begriffen, sie seien nun endlich den letzten Zwang, der ihre Bewegungen hemmte, losgeworden, und beeilten sich selbstverständlich, die Früchte ihrer Freiheit zu nutzen. Die Menschen gerieten in Raserei; Mord und Raub kamen in Schwung, allgemeine Zerstörung hub an. Das arme Gewissen lag indessen auf der Strasse, zerfetzt, bespuckt und von den Füssen der Strassengeher zertrampelt. Jeder schmiss es als einen unbrauchbaren, alten Lappen mit einem Tritt möglichst weit von sich weg. Der Schreiber dieser Zeilen wurde nach Sibirien verbannt.
Es gibt Leute, die es bedauern, dass den Menschen nicht das Gewissen wie ein Gen eingepflanzt ist. Frau/man aber sollten sich freuen über die Freiheit, weder instinktgesteuert wie Tiere noch aussengesteuert von Machtinteressen noch programmiert zu sein wie Roboter. Heteronomie beschädigt das Menschsein durch Fremdbestimmung. Autonomie dadurch, dass sich ein Ich ohne Du zum alleinigen Massstab setzt. Die Theonomie (Paul Tillich) ist als Grundlage einer freien Kommunikation zwischen Gott und seinem Ebenbild der Grund für dessen Freiheit.
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IV Gottes ist der Orient!
Europa hat drei Hauptstädte: Jerusalem, Athen und Rom. Die Namen stehen für drei Erbschaften, die oft genug verraten wurden In ständiger und lebenfördernder Innovation schuldet Europa noch immer, an der Verwirklichung und Ausdifferenzierung dieses Erbe angesichts neuer Herausforderungen zu arbeiten. Noch machen die Erbschaften Europa nicht zu dem, was es in der Welt sein kann – gemessen an den positiven Seiten dieses Erbes. Aber ein Anfang ist gesetzt, der auf Weiterführung aus ist.
Rom steht für eine, nicht selten gebrochene Rechtskultur, die das Recht als eine entscheidende Instanz zu denken und anzuwenden beginnt, Konflikte zwischen Menschen und auch zwischen verschiedenen Gruppen zu regeln. Kaiser Justinian (482-565) sammelt das vorchristliche und das christliche Recht. Er prägt entscheidend die europäische Rechtskultur, allerdings nicht ohne die fatale Folge, christlichen Lehrsätzen ihre doxologische und konziliare Menschlichkeit, also auch Vorläufigkeit zu nehmen und sie zu Rechtssätzen zu machen. Rechtsfrei oder einem einengendem Netz von Rechtsvorschriften unterworfen bleiben jene, die nicht zum Corpus Christianum gehören. Das sich entwickelnde Lehramt (ausgestattet mit dem Titel des Pontifex Maximus aus der vorchristlichen Kaiserzeit) definiert, der Kaiser straft den, der nicht dazugehört. Die Weiterentwicklung des Rechts bleibt eine zentrale Aufgabe.
Das Recht als die entscheidende Methode muss heute als der zukunftschaffende Weg, mit den nie aufhörenden Spannungen und Interessengegensätzen unter Menschen und Völkern fertig zu werden. Es ist dringlich, es als einzige Alternative zum Krieg weiterzuentwickeln. Der Krieg als Mittel zur Konfliktregulierung oder gar als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln leistet nicht mehr, was er (vielleicht) einmal geleistet hat. Er zerstört, was er verteidigen will. Er tötet die zehnfache Zahl an Zivilisten im Vergleich zum Militär. Er hat die Massenvernichtungswaffen und ihre irreversiblen Folgen (wozu nicht nur die ABC-Waffen, sondern auch Minen und Handfeuerwaffen einer blühenden Waffenindustrie gehören) nicht unter Kontrolle. Er bekämpft nicht die Ursachen von Krieg, nämlich die global ungerechte Verteilung von Lebenschancen, Partizipation und Wissen. Er stoppt nicht den Verbrauch der für alle bestimmten Ressourcen unsrer Erde auf Kosten der Armen und der kommenden Generationen.
Athen steht für eine kommunikative Vernunft (Jürgen Habermas), die auch die Theologie des hellenistischen Judentums prägt, wenn auch längst nicht so stark wie die des Christentum. In der christlichen Theologie werden Plato und Aristoteles zu "Kirchenvätern", ihre Kategorien zu Sprachformen der frühen Kirchenlehre bis ins hohe Mittelalter; von ihrem bleibenden Einfluss in der Philosophie aller Schulen ganz zu schweigen. Die Rede vom "Sein" und "Wesen" Gottes, von Gott als dem unbewegten Beweger, die Höherschätzung der "Ideen", in denen das Wesen der Dinge erkennbar sei, führt zu einer Herabsetzung des Materiellen, des Körperlichen und auch der Sexualität. Dies trägt der Christenheit Europas eine Leibfeindlichkeit ein, die der Bibel fremd ist. Ein solcher "Platonismus" wird den biblischen Berichten von Gott und der Verantwortung (und nicht nur Tragik!) des Menschen nicht gerecht. Die Bibel erzählt in Geschichten und Dialogen, in Lobpreis und Klage, ja auch Anklage von Gott – in einer ganz unphilosophischen, aber doch sehr menschlichen Sprache. Die Frage nach Wahrheit, dem Grund und dem Sinn alles Geschehens ist ein Erbe, das nicht verspielt werden darf.
Es darf die Hellenisierung des Christentums nicht nur als Irrweg abgetan werden – sie war notwendig, um eine Kommunikation der biblischen Botschaft in der damaligen "Leitkultur" und herrschenden Sprache überhaupt zu ermöglichen. Der biblische Gott ist ein kommunikativer Gott in allen Kontinenten und Sprachen. Allerdings hat die Hellenisierung die biblische Botschaft auch verbogen. Israel gilt sehr früh als be- und enterbt vom "wahren Israel", als das sich die Kirche selbst einsetzt. Die konkrete Tora der Bibel und die sie tragenden Geschichten verlieren allzu oft ihre hebräische Kontur und damit ihre Bodenhaftung zugunsten von Himmelslehren, ihre konkrete Materialität zugunsten von ewigen Seinsaussagen, ihre veränderliche Geschichtlichkeit zugunsten von Theorien. Bis in bestimmte Formen der europäischen Theologieentwürfe und auch afrikanischer, asiatischer oder lateinamerikanischer Theologien ist die Gefahr nicht gebannt, aus der Israelgeschichte eine zwar respektable, aber doch überholte Vorgeschichte des Christentums werden zu lassen – so wie es Vorgeschichten aller Kulturen gibt. Dann sitzen Abraham und Mose mit Griechenlands Philosophen oder Kulturen der Zweidrittelwelt im Vorraum der Kirche. Als gegenwärtige Dialogpartner werden sie alle kaum ernst genommen.
Jerusalem steht für das biblische Erbe des Gottesgedächtnisses, das zugleich ein Menschengedächtnis ist, weil er sein Ebenbild nicht vergisst und dieses aktive Nichtvergessen seine Ebenbilder in ein Leben hineinzieht, das seinerseits weder Gott noch den Nächsten vergisst, übersieht oder verachtet. Es realisiert sich in der Fähigkeit, sensibel zu leben, Leiden und Bedürftigkeit der anderen wahrzunehmen. Dieses Leiden an der Unerlöstheit der Welt verdankt sich der Offenbarung Gottes in der Israel- wie in der Jesusgeschichte. Beide wissen von der Herkunft und von der Zukunft der gut geschaffenen Welt, von ihren Gefährdungen und Korrumpierungen, die zu harmlos mit dem Sammelbegriff Sünde bezeichnet werden. Beide Geschichten wissen von der Freiheit zur Verantwortung in der menschlichen Geschichte, um eben die Geschichte nach der Weisung der Menschlichkeit und nicht der Unmenschlichkeit zu gestalten. Ihnen ist der Wille Gottes nicht fremd, befremdlich oft die Umsetzung durch seine Erben und "Verwalter". Leben und arbeiten Gemeinde und Theologie an der ständigen Vergegenwärtigung der ihnen anvertrauten Erinnerungen, dann statten sie sich nicht mit der Waffe es Vergessens (aus), mit dem Schild der Amnesie gegen das Eingedenken fremden Leidens.... Dann geht es um Widerstand gegen kulturelle Amnesie (Johann Baptist Metz), die das vergangenheitsfreie und zukunftlose "Jetzt" sowie das solistische "Ich" zu Brennpunkten des Lebens ausbaut.
Die drei Hauptstädte kennen Filialen – Damaskus, Konstantinopel, Alexandria, Moskau, Wittenberg, Genf....Ihnen allen wie den in der weltweiten Ökumene glücklicherweise dazu gekommenen und dazu kommenden Zentren bleibt die Aufgabe, die aus der asiatisch-europäischen und griechisch-römischen Konvivenz mit Jerusalem entwickelten lebendigen Ströme von Recht und Gerechtigkeit, Kommunikation und Reflexion, Liebe und Geschichtlichkeit weiter zu treiben.
Israel hat das in der Bibel und in der nachbiblischen Tradition in ständiger Diskussion – Talmud und Midrasch protokollieren das offene Gespräch durch die Jahrhunderte – bearbeitete Ethos ständig auch in Rechtsformen überführt. Das geschieht schon in der Bibel selbst. Aus dem äusserlich so unscheinbaren Sabbatgebot werden in einer innerbiblischen Auslegungsdynamik neue Regelungen zur Sklavenfreilassung, zur Schonung des bebauten Bodens alle sieben Jahre und zum Schuldenerlass alle sieben mal sieben Jahre freigesetzt. Der Jude Jesus beteiligt sich an dieser Auslegung, wenn er die Tora auch neu auslegt, nicht als Antithesen zu dem was zu den Alten gesagt ist, sondern als seinen Beitrag, Gottes alten Willen heute neu und scharf zu verstehen! Es entstehen dabei keine unveränderlichen Ewigkeitssätze wie die "Gesetze der Meder und Perser", sondern lebendige, in neue Situationen und Probleme einweisende Handlungsmöglichkeiten, die uU auch revidierbar sind. Israels Gott kann sich umstimmen und umgestimmt werden.
Israel hat das in der Bibel angelegte Fragen nach dem Grund und Ziel des Seins anders als in Hellas, aber doch auch aufgeworfen und zu beantworten versucht – zB: Was ist der Mensch? Wer steht am Anfang der Welt und der Geschichte? Wer am Ende? Was ist ihr Sinn? Wozu ist, was ist? Wie gehen Menschen mit Anfang und Ende des Lebens um? Wie mit Schuld? Mit Angst? Mit Eigentum? Mit Feinden? Mit Gewalt? Wie mit Reichtum oder Armut? Mit Kranken und Hungernden? Mit Kindern und Alten? etc. Die Weisen in Griechenland haben wie die in Israel Kommunikationsformen entwickelt, die, wenn schon nicht alle, so doch viele Menschen beteiligen. Die Kirche hat die konziliare Disputation auch geübt (gegen Staatskirchentum und Dogmatisierungen) und in der Ökumenischen Neuzeit neu entdeckt.
Europa wurde, was es ist, durch Recht und Ethos, durch ein tabufreies Suchen nach Antworten auf Seinsrätsel und zur Lösung praktischer Lebensfragen. Dazu gehört auch die Entzauberung aller Autoritäten und die Befreiung von ihren fesselnden Unterwerfungsansprüchen.
Die Geschichte zeigt, wie Versteinerungen von Antworten, Gewissensknebelungen, autoritäre Entscheidungen und Selbstbehauptungsinteressen diese Erbschaften aus Jerusalem, Athen und Rom verderben oder verschütten. Europa hat einen Beitrag zur Globalisierung von Recht, Ethos, Kommunikation und zukunftsweisenden Fragestellungen zu leisten – oder es lässt sein Gewissen mit der Verteidigung von partiellem Reichtum und dem Übersehen globaler Armut und Rechtlosigkeit füllen.
V
Es muss die Christenheit aller Zeiten beschämen, dass Maimonides in seiner Mischne Tora (Wiederholung der Lehre) der Christenheit (und der Enkeltochter, dem Islam) einen positiven Platz in der Geschichte Israels und der Völker zuweist. Nachdem er die Messianität Jesu (mit Verweis auf die nicht erfolgte Befreiung Israels und auf Dan. 11,14 u. 35) nicht anerkennen kann, erinnert er daran, dass in Gottes unfassbaren Plänen Jesus wie Mohammed dazu beitrugen, den Weg des wirklichen Messias zu ebnen. Durch deren Wirken ist doch inzwischen die ganze Welt voll geworden vom Gedanken an einen messianischen Erlöser und von den Worten der Lehre und der Gebote; es haben sich diese Worte auf fernen Inseln verbreitet und unter gänzlich ungebildeten Völkern; sie beschäftigen sich jetzt alle mit den Worten der Tora und mit der Frage ihrer Gültigkeit. Diese Würdigung von Christenheit und Islam hat kein Gegenstück in der christlichen Welt, das eine Anerkennung Israels – bei allen Unterschieden, die auch Maimonides nicht verschweigt - in Gottes Plänen für die Gegenwart und Zukunft der Völker. Israels Rolle hat seine positive Rolle in der Vergangenheit gespielt. Für die Gegenwart bleibt eine negative. Die Kirche hat sich exklusiv sein Erbe angeeignet und Israel damit enteignet. Maimonides schreibt in einer Zeit, als die Kirche Israel schon seit Jahrhunderten nur den von Augustinus angewiesenen Platz zugestand – mit allen diskriminierenden Folgen: Sie (die Juden) sind Zeugen ihrer Bosheit und unserer Wahrheit.
Obwohl sich die Kirche von seiner Wurzel distanzierte, ja abtrennte – was ihr manche Dürre eintrug - gilt, was Maimonides beobachtet:
Gottes Name und sein Wort wurden trotz menschlichen Versagens auch bekannt gemacht und nicht nur überhört. Das gilt, obwohl, besser: weil wir wissen, wie oft aus den lebendigen Strömen stehende Gewässer oder Minderheiten und Mitmenschen ersäufende Gewaltfluten geworden sind und wieder werden können. Zu illustrieren sind diese Gefahren beispielsweise am Schicksal und hegemonialen Auftreten der sich vermessen Erstes, Zweites oder Drittes Rom nennenden Staatsgebilde. Es ist die Arroganz eines Europa, das mehr Stolz empfindet, Nachfolgerin der Römischen Reiches zu sein (und sich um dessen Erbe zu streiten) als in der Nachfolge der von Jerusalem ausgehenden Botschaft geistesgegenwärtig und kritisch mit dem durch die Zeiten wandernden Gottesvolk unterwegs zu sein.
Zeigt der Gründungsmythos Europas, nach der die Geschichte des Kontinents mit einer Vergewaltigung der asiatischen Prinzessin Europa aus Sidon durch den Göttervater Zeus beginnt, der eine Gewaltkette folgt, eine pagane Gewalttradition, der sich das Christentum mit seiner messianischen Botschaft oft genug beugte, als es im wesentlichen eine Kirche der Heidenvölker geworden war? Oder wird mit Recht darauf verwiesen, dass es in der Hebräischen Bibel auch eine Gewaltgeschichte gibt, auf die sich die getauften Herrscher des Abendlandes sich sehr wohl berufen konnten?
Hat nicht die Bulle Unam Sanctam aus dem Jahr 1302 das Schwertamt auch für die Kirche beansprucht - unter fälschlicher Berufung auf Lukas 22,38? Die Kreuzfahrer, die Heiligen Krieger gegen die Waldenser und die Hussiten, die Inquisition und die Verfolger der jüdischen Gemeinden benutzten das Argument vom Schwertamt der Kirche. Und immer wieder wurde es zurückgeführt auf die Kriege des Königs David, auf Elias Hinrichtung der Baalspriester auf dem Karmel oder auf einen Herrn Zebaot, den Lenker der Schlachten, der für Israel streitet. Ob stärker theokratisch oder byzantinisch, stärker von einer Zwei-Reiche-Lehre oder ethnozentrisch geprägt – Europas Beziehungen zwischen Staat und Kirche bieten in ihren christlichen Dominanzmodellen wenig Platz für die Rechte von Minderheiten und einen Respekt vor ihrem Dissidententum. Die Toleranz hat seit Ambrosius (geb ca 339 in Trier) keine kirchliche Chance mehr gehabt (Hendrik Berkhof). Es ist jener Ambrosius, dem die Christenheit das Te Deum verdankt und die jüdische Gemeinde in Mailand das Niederbrennen ihrer Synagoge. In Europa konnte frau/man schon immer ambrosianisch oder gregorianisch singen und nicht für die Juden schreien.
Und wieder ist ein Einwand zu hören: War es nicht derselbe Ambrosius, der seinem Kaiser im Namen der Freiheit widerspricht: Höre mich in Gottes Namen an, Theodosius! Es ist weder kaiserlich noch priesterlich, die Freiheit des Wortes zu verkennen...denn nichts wird an euch Kaisern so geschätzt und geliebt, als wenn ihr die Freiheit a u c h bei denen liebt, die euch durch ihre dienstliche Gehorsamspflicht unterstehen. Und dann zitiert er aus dem Psalm (119,46), der das Lob der Tora singt: Von deinen Vorschriften will ich reden vor Königen und mich nicht scheuen! um sofort das profetische Amt der Kirche nach Hesekiel 3,17-19 zu beschwören, nach dem der Profet zum Wächter bestellt sei. Wenn es um Gerechtigkeit gehe, sei das, gehorsam den Befehlen unseres Gottes, keine Einmischung in die Politik. Das Peinliche ist nur dass er hier einem relativ toleranten Kaiser widerspricht, der eine Entschädigung und den Wiederaufbau der Synagoge auf des Bischofs Kosten fordert. Ambrosius benutzt seine und der Kirche Freiheit zum Widerspruch: Ich erkläre, dass ich es war, der die Synagoge in Brand gesteckt hat...Welche Gemeinsamkeit hat der Fromme mit dem Gottlosen? Mit dem Gottlosen sind auch die Bezeugungen der Gottlosigkeit auszurotten. Wie in einem Brennspiegel wird hier die Ambivalenz der Wirkungsgeschichte der biblischen Botschaft sichtbar.
VI
Trotz allem, in allen christlichen Konfessionen wird aus der hebräischen Bibel Widerspruch gegen Obrigkeiten und Eintreten für die Mühseligen und Beladenen im Hören auf die Tora beide Testamente gelernt – bis hin zur Lehre vom Tyrannenmord. Die Fürstenspiegel Europas verweisen auf die Umkehrfähigkeit von König David und auf die Weisheit Salomos als Vorbilder. Psalm 2 und 51 beispielsweise werden auch als christliche Fürstenspiegel benutzt. Das erste Gebot mit seiner Relativierung aller irdischen Absolutheitsansprüche geht nicht ganz unter in irdischer Machtvergötzung.
Allerdings ist klar festzustellen, dass es die christlichen "Ketzer", die "independents" und "Dissidenten" sowie die jüdischen Minderheiten waren, die schon vor der Aufklärung durch "abweichendes Verhalten", durch Bestehen auf ihrem Recht, durch ihre schiere Existenz Freiräume schufen, in denen sich Freiheit und Toleranz, Recht auf eigene Positionen und Würde einnisten konnten – gegen die Interessen der Grossinstitutionen von Staaten und Kirchen. Und doch kam ihr oft mit Verfolgung und Vernichtung bezahltes Engagement eben auch jenen grossen Institutionen zugute, die selbst zu wenig getan hatten, Respekt vor den anderen zu leben und zu lehren. Es sind die christlichen und jüdischen "Abweichler", die Europas Geschichte um Humanismus und Aufklärung bereichern.
Sie hatten nicht vergessen, dass die kritische und selbstkritische Profetie die andere Seite der Tora war. Das gilt auch für das säkulare Erbe der Bibel in Europa. Der Rabbinerenkel und getaufte Protestant Karl Marx zB ist ohne diesen biblischen Impuls nicht zu verstehen. Für ihn ist Religion Protestation gegen das wirkliche Elend, woraus aber Opium des Volkes wird. Allerdings wird für jene Juden und Christen Protestation gegen das wirkliche Elend eines freiheitsberaubenden, verstatlichten Marxismus zur Pflicht.
Die Macht und Mammonkritik der Profeten wie Jesu ist ein Teil der Mosetora. Profetie ist nicht nur messianische Weissagung, deren "Erfüllung" die Lehre der Kirche dann triumphal für sich reklamieren kann. "Erfüllen" ist eine biblische Kategorie, die sich nicht nur auf das Eintreten von früher Gesagtem bezieht. Profeten und Mose sind nicht Wahrsager, sondern Wahrheitssager. Sie stehen für eine Wahrheit, die zu tun ist. Das Gesetz ist eine Gestalt des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist (Karl Barth). Deshalb ist das Gesetz nach Paulus "heilig, gerecht und gut", auch wenn die Menschen es in ihren Händen und Köpfen oft genug ins Gegenteil verwandeln, wie der selbe Paulus mit Amos und Hosea klar sieht. Das geschieht dem Evangelium genau so. Auf diese nutzlose billige Gnade musste Dietrich Bonhoeffer eine tatenlose Kirche aufmerksam machen, als das Volk der Tora aufs höchste gefährdet war und Europas Gewissen weithin schliefen. Die ihr Gewissen nicht vom Lauf der Dinge bestimmen lassen, sondern vom Beten und Tun des Gerechten, helfen den Staaten und Kirchen auf den Weg der Entsakralisierung irdischer Hoheit und der Humanität, zu mehr Partizipation und Recht.
Die Tora lebt nicht selten in einer "Christologie von unten", wenn das herrschende Christusbild nur die Macht der Herrschenden bestätigt. Der Christus von unten ist einer, der zur Nachfolge einlädt. Er will keinen Punkt des Gesetzes auflösen, sondern es erfüllen. Er eröffnet eine Zukunftsperspektive für alle: Wer es aber tut und lehrt, der wird gross heissen im Himmelreich (Matt. 5,17-19). In den die grossen Kirchen bis heute begleitenden Gerechtigkeitsbewegungen und Reformgruppen lebt wie in den Minderheiten der jüdischen Gemeinden eher das Bewusstsein, dass Gottes Wille getan werden will.
Dieser Prozess geschah vor allem in den angelsächsischen und den von der zwinglischen und calvinistischen Reformation geprägten Ländern. Hier waren Altes Testament, Partizipation der Menschen und Gewissensfreiheit stärker zuhause als im lutherisch, katholisch oder orthodox geformten Europa. Doch sollen Las Casas vor Karl V., Fjodor Dostojevskis "Grossinqisitor" oder Sören Kierkegaards Insistieren auf der Verantwortung des Einzelnen vor Gott nicht vergessen werden. Sie prägen Europas Gewissen. Aber auch Luther hat in der Schrift, wie Christen sich in Mose schicken sollen, die Mosetora als das beste Staatsgesetz bezeichnet. Wäre er Kaiser würde er es einführen. Er will vor allem vier Konkretionen der Tora den Leuten zukommen lassen: Abgabe des Zehnten auch durch die Reichen, Zinsverbot, das Erlassjahr und das Familienrecht. Aber für die Christen ist "Mose abgetan". Deshalb haben die Bauern – als Christen – kein Recht, sich auf die Mosetora zu berufen. Sie ist Staatsrecht. Wichtig ist Mose für die Christen um der Verheissungen und um der Glauben stärkenden Beispiele willen.
VII
Die Rede vom "Christlichen Abendland" oder nach 1989 von einer "Neuevangelisation Europas" ist Romantik. Es ist dagegen nötig , in die politische, ökonomische und religiöse Wirklichkeit umzusetzen, was im selben Jahr die "Europäische Ökumenische Versammlung" in Basel unter der Überschrift Frieden in Gerechtigkeit beschlossen hat. Es ist eine Bündelung der Tora in und für Europa von heute: Für das zu bauende europäische Haus sind einige grundlegende Hausregeln nötig, eine Art 'Hausordnung', die das Zusammenleben möglich macht. In diesen Regeln müsste enthalten sein: Das Prinzip der Gleichheit aller Bewohner, seien sie stark oder schwach, die Anerkennung von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und Partizipation, eine positive Einstellung gegenüber Anhängern verschiedener Religionen, Kulturen und Weltanschauungen, offene Türen und Fenster – mit anderen Worten: viele persönliche Kontakte und viel Gedankenaustausch, Konfliktlösung durch Dialog und nicht durch Gewalt. In diesem Haus sollte sich niemand fürchten, die Wahrheit zu sagen. Im europäischen Haus sollten die Bewohner etwas unternehmen gegen das Gefälle zwischen den Armen und den Reichen in Europa, gegen den Riss zwischen Nord und Süd auf diesem Kontinent, gegen die diskriminierende Behandlung von Nicht-Staatsbürgern, gegen die Ungerechtigkeit der Massenarbeitslosigkeit, gegen die Vernachlässigung der Jugend und das Sich-Selbst-Überlassen der Alten. Das tägliche Brot sollte unter allen gerecht verteilt werden.
Das ist das Programm einer Nachfolge Gottes und Christi und der Inhalt einer Fürbitte, die auf die Anbetung gängiger Werte und Autoritäten verzichten kann, weil sie den Namen des Einen und Ewigen anbetet. Sein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Damit bauen wir an seinem Reich der Gerechtigkeit. Dadurch werden Gewissen geprägt und geschärft. Das geschieht über die Grenzen des Kontinents hinaus. Johann Wolfgang Goethe reisst die religiösen, kulturellen und politischen Grenzen des kleinstaatlichen Europa ein, wenn er für Ibn Rushd (Averroes), einen aufklärenden Salman Rushdie des Mittelalters, eintritt. Er tut das mit dem Verweis auf den Namen und den Willen Gottes:
Gottes ist der Okzident!
Nord und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
Er, der einzige Gerechte,
will für jedermann das Rechte.
Sei, von seinen hundert Namen,
Dieser hochgelobet! Amen.
Der Autor
Jg. 1932, Studium der Theologie und Soziologie in Mainz, Bonn und Basel. 1961-1969 Studentenpfarrer an der Technischen Universität Darmstadt. 1969-1986 Direktor der Ev. Akademie Arnoldshain. 1986-1997 Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen. 1965-1984 Ev. Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR). 1990-1998 Präsident des International Council of Christians and Jews (ICCJ), heute deren Ehrenpräsident.