Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 141

Mai 2011

Von großer medialer Aufmerksam begleitet erschien im März diesen Jahres der zweite Band von Papst Benedikt XVI. über Jesus von Nazareth, "Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung". Selbst der israelische Ministerpräsident Netanjahu befleißigte sich seinerzeit dem Papst für sein Buch zu bedanken (siehe Compass 14.03.2011). Wofür? Dafür, dass der Papst unmißverständlich deutlich gemacht habe, dass es keine Kollektivschuld der Juden am Tod Jesu gebe. Eine Position freilich, derer es des Papst-Buches nicht bedurfte, ist sie doch seit der Konzilserklärung "Nostra Aetate" von 1965 bereits Bestandteil der katholischen Lehre. Wie auch immer, der Dank Netanjahus und andere jüdische Reaktionen auf Erscheinen des zweiten Jesus-Bandes des Papstes signalisiert, wie sehr nach wie vor jede Jesus-Deutung - zumal aus der Feder eines Papstes - unmittelbar für das fragile Verhältnis zwischen Christentum und Judentum, Kirche und Israel von Relevanz ist.

Der katholische Theologe Hubert Frankemölle, seit vielen Jahren sowohl durch seine wissenschaftliche Arbeit als auch durch sein Engagement in verschiedenen Dialog-Gremien ein ausgewiesener Kenner und Verfechter des christlich-jüdischen Gesprächs, legt mit der vorliegenden, als ONLINE-EXTRA Nr. 141 online exklusiv im COMPASS publizierten Rezension des päpstlichen Jesus-Buches eine theologische Gesamtwürdigung des Bandes vor und widmet sich dabei auch betont der Frage, inwieweit das Buch den Dialog mit den Juden voranbringt. Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien bereits in "Publik-Forum", Nr. 7 vom 8.April 2011.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2011 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 141


Ein allzu persönlicher Jesus

Das neue Jesus-Buch des Papstes ist eine geistliche Meditation über den „realen Jesus“

HUBERT FRANKEMÖLLE

Jesus von Nazareth und Bücher zur geistlichen Schriftlesung stoßen in der Gegenwart auf ein breites Interesse, erst recht, wenn der Papst der Verfasser ist.

Josef Ratzinger/Benedikt XVI. hat unter diesen beiden Namen nun den zweiten Band  seiner Jesus-Trilogie unter dem Titel „Jesus von Nazareth. Vom Einzug in Jerusalem  bis zur Auferstehung“ veröffentlicht (Freiburg: Herder 2011, 328 Seiten plus 37 Seiten Anhang des Verlages u.a. mit hilfreichem Glossar und Stichwortregister). Das Grundanliegen des Papstes ist eine sehr persönliche „Annäherung an die Gestalt des Herrn“ (14) und sein Geschick. Hilfe bieten ihm dabei die kanonisch, d.h. als Einheit gelesene Bibel und die Kirchenväter. Beide kennt er durch und durch. Er lebt aus ihnen. Dies belegt auch seine genaue Kenntnis des griechischen Neuen Testaments.

So kritisiert er die übliche deutsche Übersetzung „beim Mahl“ in Apg 1,4. Angesichts verschiedener jüngerer Textzeugen entscheidet der Papst sich für die Lesart beim „Salzessen Jesu“  mit der Bemerkung, Lukas habe das Verb „sicher bedachtsam gewählt … als Zeichen des neuen und immerwährenden Lebens.“ (296) Ob die ohne Zweifel schöne Meditation (295-297) der lukanischen Theologie entspricht, sei dahingestellt. Leitend ist das theologische Vorverständnis des Papstes, auch wenn der Text dafür keinen Anhalt bietet. So liest man hinsichtlich des geliehenen Esels beim Einzug in Jerusalem zu Mk 11,3: „den er gleich hernach seinem Besitzer zurückgeben lässt.“ (18) Das steht dort nicht. Historischer kann keine Aussage sein. Jeder Anflug eines Fehlverhaltens soll wohl vom hoheitlichen Bild Jesu Christi ferngehalten werden. Hier hätten dem Leser bibeltheologische Anklänge an Sach 9,9 und Gen 49,11, vor allem die schrifttheologische Deutung mit Hilfe von Jes 62,11 in der Parallele in Mt 21,5 Jesus als denjenigen „Herrn/Kyrios“  (Mk 11,3: „Der Herr braucht ihn“) darstellen können, der wie Gott in den Büchern Genesis und Ijob als „Herr der Tiere“ Vollmacht über die Tiere hat. Historisch-kritisch-theologische Exegese bietet hier mehr als der Papst ihr zutraut.

Leitend in seinem Christusbild ist wie in Band 1 das Johannesevangelium; die Kirchenväter knüpfen wegen der „hohen“ Christologie, die sich im Glauben an die Präexistenz des Logos (1,1ff) zeigt, primär daran an. Was der Papst  bietet, ist eine geistliche Schriftauslegung mit dem Wunsch „die großen Einsichten der Väter-Exegese“ mit der historisch-kritischen Bibelauslegung zu verbinden (11). Ob dies gelingen kann, ist die große Frage. Darum geht es zum Einen im Folgenden; zum Zweiten seien seine Äußerungen zum Verhältnis der Kirche zum Judentum befragt. 

Nach seinem theologischen Konzept werden exegetische Gewährsmänner ausgewählt, die er – wo es passt – ausführlich referiert, um am Ende dezidiert seine eigene Überzeugung zu formulieren. Andere anerkannten Werke werden übergangen; so etwa zum viergestaltigen Christusbild in den Evangelien von R. Schnackenburg, zum Abendmahl und hellenistischen Kult von H.J. Klauck, zur Drei-Tage-Theologie („auferweckt am dritten Tag“) von K. Lehmann, zum Glauben an die Auferweckung insgesamt von G.Greshake/J. Kremer oder H. Kessler, um nur einige Themen und Namen zu nennen.

Wie sehr seine Leseweise selbst der handschriftlichen Überlieferung der Texte der Meditation dient, mag seine Deutung der Einsetzungsworte der Eucharistie (146-158) belegen. Entgegen den in der Kirche üblichen Wandlungsworten beim Kelch „für euch und für alle vergossen“ – gesprochen im Hinblick auf das Blut Jesu am Kreuz – vertritt der Papst eine neue Theologie: Das ursprüngliche „für viele“ meine die „sakramentale Handlung“ der Glaubenden (154ff), das „für alle“ bezöge sich auf den universal das Heil bewirkenden Kreuzestod. Einer solchen Deutung steht zwar Mk 10,45 („für viele“) entgegen, doch „ist klar, dass Jesus dabei die Gottesknecht-Prophetie von Jes 53 aufnimmt und mit der Sendung des Menschensohnes verbindet“ (156). Überhaupt, meint Benedikt,  sei Jes 53 ein Leittext für Jesus (vgl. das Register). Das wird vom Großteil der Exegeten allerdings bezweifelt, die darin eine nachösterliche Deutung des Todes Jesu sehen. „In Jesu Bewusstsein hineinleuchten zu wollen“ hält Benedikt zwar zu Recht für „anmaßend und zugleich einfältig“, um aber sofort anschließend zu formulieren: „Wir können nur sagen, dass er in sich selbst die Sendung des Gottesknechtes und die des Menschensohnes erfüllt wusste“ (157). Was denn nun?



Hubert Frankemölle


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Freude an Hypothesen

Die nachösterliche Lehre über Jesus Christus (Christologie) in der Sicht der Kirchenväter des 3.bis 5. Jahrhunderts und das Wissen des irdischen Jesus darum sind Kernthema des Buches: „Mit ihrer Weise des Verstehens“ etwa von Jesu Beten waren sie „viel näher an der Wirklichkeit“ als moderne Auslegungen im „zu engen individualistischen Ansatz“ (238f). Um diese These im Bewusstsein Jesu tiefer zu begründen, vertritt der Papst für alle Gleichnisse „eine kreuzestheologische Interpretation“, er stellt sie alle „unter das Zeichen des Kreuzes“ (143), d.h. bereits in ihnen geht es nach Benedikt um die Ablehnung Jesu, während es nach allen Auslegern in den Gleichnissen um „die Herrschaft“ d.h. das Wirken Gottes geht. Auf Seite 77 in Bd. 1 hatte der Papst dies ausdrücklich anerkannt.  Jetzt will er unbedingt auch den Sühnegedanken bei Jesus selbst verankern. Insofern ist er historischer als manche der von ihm kritisierten historisch-kritischen Exegeten.

Wie soll man seine Deutung der Auferweckung „am dritten Tag“ als „Faktum“ (284) deuten? Kein „theologisches“ Datum sei gemeint, sondern eine „Datumsangabe“ zur ersten Erscheinung (283). Da wundert man sich dann doch, da es im Text nicht so steht. Für ihn ist wichtig, dass im vorpaulinischen Bekenntnis „gestorben und begraben“ (1 Kor 15,3-5) „ganz offensichtlich … das Leersein des Grabes … vorausgesetzt“ wird. (280) Irritierend wirkt auch der Satz, „dass die Auferstehung für die Jünger so real war wie das Kreuz.“ (270)

Neu sind auch die historischen Thesen, dass es eine „Anhängerschaft des Barrabas“ gab (209) oder dass z. Z. Jesu „am Abhang des Ölberges ein Gehöft mit einer Ölkelter“ existierte (169). Hier und anderswo (vgl. etwa 45-48 den Überblick zu den rivalisierenden Gruppen bei der Belagerung Jerusalems oder 126-134 zum Datum des letzten Abendmahls) trägt der Papst als Professor fleißig zur sonst kritisierten Hypothesenfreude der Bibelerklärer bei. Dies betrifft auch die Rückführung der Reden Jesu aus der Zeit nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 „im Wesentlichen“ auf Jesus selbst. Zwar verzichtet er hier und anderswo auf eine exegetische Rekonstruktion, aber: Dass Jesus „das Ende des Tempels – und zwar sein theologisches und heilsgeschichtliches Ende – vorausgesagt hat, steht außer Zweifel.“ (50)

Von welchem Jesus redet der Papst? Laut Vorwort wollte er kein „Leben Jesu“ schreiben, auch keine Christologie; er möchte mit nicht weniger als mit dem Traktat von Thomas von Aquin „über die Geheimnisse des Lebens Jesu“ (12) verglichen werden. Ihm geht es um die „Verbindung der zwei Hermeneutiken“ (13), d.h. der zwei Zugangswege zum Verstehen der Gestalt Jesu: Er will wie im ersten Band (20f. 271) den „historischen Jesus“, der für den Glauben „inhaltlich zu dürftig“  und „zu sehr in der Vergangenheit eingehaust“ ist, mit dem „realen Jesus, von dem aus so etwas wie eine ‚Christologie von unten‘ überhaupt möglich wird“, verbinden (13). Dieser Ansatz ist keineswegs neu, da die Einsicht, dass wir in den Evangelien nur den vierfach gedeuteten, nicht jedoch den historischen Jesus finden, seit Reimarus (1694-1768) zur Grundeinsicht jeglicher Bemühung um Jesus Christus gehört. Daher sind Wendungen wie „realer Jesus“ sowie die Rede von seiner „wirklich historischen Gestalt“ (13), wie sie der Papst verwendet, als Bezeichnung des im Glauben gedeuteten, in der Einheit mit dem Vater lebenden Jesus unzulässig. Welcher Leser, auch wenn er theologisch gebildet ist, wird durch diese Wendungen nicht in die Irre geführt? Das gilt nicht nur für die vom Papst behauptete Identifikation des irdischen Jesus mit dem Sprecher im Hohenpriesterlichen Gebet in Joh 17, wo Jesus „Versöhner und Sühnegabe, Priester und Opfer“ (94) ist.


Der grundsätzliche Mangel

Gerade im Vorwort hätte die Fachsprache dem Leser erläutert werden müssen. Keine Frage: Wissenschaftliche Schriftauslegung „muss sich neu als theologische Disziplin erkennen, ohne auf ihren historischen Charakter zu verzichten.“ Tut sie es, wird sie „erkennen, dass eine recht verstandene Hermeneutik des Glaubens dem Text gemäß ist“ (11). Dieser Ansatz ist keine Absage an die Stärke der historisch-kritischen Exegese, denn im Arbeitsschritt der Redaktionsgeschichte geht es gerade um die theologische Konzeption der Verfasser der einzelnen Texte, d.h. um die Frage, wie haben sie die überlieferten Traditionen zum übergreifenden Text und seiner Theologie komponiert. Dieses theologische Ziel der historisch-kritischen Exegese blendet Benedikt seit jeher aus. Hier behauptet er am Beginn der Literaturnachweise ausdrücklich: „wie im Vorwort ausgeführt, setzt dieses Buch die historisch-kritische Exegese voraus“ (319); im Vorwort wird das Verhältnis von ihr zur Meditation zwar angesprochen, aber nicht be-antwortet und im Verlauf des Buches nicht wirklich ernst genommen. Täte Benedikt es, würde er nicht ungeschichtlich und systematisch die „Gestalt“ Jesu aus allen vier Evangelien und aus den Briefen des Paulus in der Perspektive der Theologie der Kirchenväter montieren, sondern das Evange-lium vom Handeln Gottes in und durch Jesus jedes einzelnen Theologen für seine Gemeinde zu ihrer Zeit durchbuchstabieren und dann erst nach dessen Einheit fragen. Nur in der Vielfalt kann es „frohe Botschaft“ für konkrete Menschen sein. Dass der Papst als Präsident der Vatikanischen Glaubenskommission weder die Theologie der Befreiung noch die politische Theologie akzeptieren konnte, liegt an seinem hermeneutischen Grundkonzept, die Vielfalt der Botschaft im Neuen Testament lehrmäßig zu einem System zusammenfassen zu wollen – zudem mit der historisch-kritisch nicht zu begründenden Voraussetzung, dass die „Grundbotschaft“ (66) und „das Wesentliche“ (59) von Jesus selbst stammten. Aufgrund der durchgängig vorgegebenen Sicherheit in seinen Thesen erinnert der Papst an Mose (vgl. Ex 19), der zu Gott „auf den Berg“ aufsteigt, um die Worte Gottes zu hören, um sie dann dem Volk zu verkünden.

Der Versuch einer „Verbindung der zwei Hermeneutiken“ (13), die historische Botschaft Jesu und die unterschiedlichen Deutungen der Evangelisten mit der systemischen Lehre der Kirchenväter auszusöhnen, ist in dem Buch nicht gelungen. Die seit Jahren vom Papst  postulierte Einheit von Vernunft und Glauben wird einseitig auf seine Glaubenssicht hin aufgelöst.

Sein Vorwurf  an die Forschung zum historischen Jesus, dieser Jesus  sei „zu dürftig, als dass von ihm große geschichtliche Wirkungen hätten ausgehen können“ (13), richtet sich auch an das dogmatische Konzept des päpstlichen Kritikers. Benedikt macht die das konkrete Leben der damaligen und heutigen Menschen unbedingt angehende Botschaft des die Welt und die Menschen liebenden Gottes zu einer Lehre. Franz von Assisi, Mutter Theresa und viele Heilige hingegen rezipierten etwa die Erzählungen vom reichen jungen Mann in Mk 10,17-31 sowie Geschichten von Jesu Solidarität mit den Menschen (deren Behandlung im ersten Band „Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“ völlig fehlte!).

Im Übrigen: Die auch zum ersten Band oft geäußerte Kritik zum Verfasser „Josef Ratzinger/Benedikt XVI.“ könnte sich im Nachhinein als Demokratisierung der im Vatikanum I definierten Unfehlbarkeit des Papstes erweisen. Dann hätte unter Papst Benedikt der Heilige Geist sozusagen über die ungebrochene professorale Eitelkeit des Inhabers des höchsten Amtes in der Kirche einen Sieg errungen. Auch die Auswirkungen auf das christlich-muslimische Gespräch durch die bekannte, zunächst verheerende Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. von 2006 ließe sich so deuten.




Der große Bruch
Warum das Buch den Dialog mit den Juden nicht weiterbringt

Ist das zweite Jesus-Buch des Papstes für den Dialog mit den Juden förderlich? Wofür lobten der israelische Staatspräsident Netanjahu und andere Juden den Papst, warum kommentierten andere Juden: „viel Lärm um nichts“?

Dass es zwei Leseweisen der Bibel, die jüdische und die christliche, gibt (49), liest man mit großer Zustimmung. Dies hat die katholische Kirche zuletzt 2001 in der lesenswerten, von der Päpstlichen Bibelkommission herausgegebenen Erklärung „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ entfaltet. Die Wissenschaft aber ist weiter; sie nimmt sowohl das vielgestaltige hebräisch-aramäische Judentum (mit und ohne Tempel-Theologie) sowie das griechische Judentum und die griechische Bibel (die Septuaginta) in der Zeit Jesu ernst. Es ist ein unbestrittenes Faktum,  dass alle neutestamentlichen Theologen in der Regel die griechische Bibel zitieren. Dies hat Folgen: So ist der Glaube an die Auferweckung des Einzelnen nach dem Tod damals allgemeine jüdische Überzeugung. Dies verschweigt der Papst. Er  betont durchgehend die absolute „Neuheit“ Jesu (99). Er denkt vom „Bruch“ zwischen Juden und Christen her (44ff), auch beim Glauben an die Auferweckung Jesu: „Nur wenn Jesus auferstanden ist, ist wirklich Neues geschehen“ (266f), betont Benedikt. Dass das Neue Testament dieses Wirken Gottes an Jesus mit anderen griechisch spre-chenden Juden teilt (vgl. Röm 4,17; 1 Kor 15,13.16; Mt 27,52f), wird wohl im Hinblick auf die durch Kirchenlieder geprägte Frömmigkeitsgeschichte verdrängt, somit auch die Kontinuität zum jüdischen Glauben.

Die Überzeugung, dass die Juden keine Kollektivschuld am Tode Jesu haben, wird im Buch sprachlich sehr verhalten formuliert (208-210). Eine kritische Auseinandersetzung  mit dem „Blutsruf“ aus dem Matthäusevangelium (27,25) mit seiner antijüdischen Wirkungsgeschichte wird sträflich vernachlässigt. Bereits 1965 im Zweiten Vatikanischen Konzil lehnte die katholische Kirche eine Kollektivschuld der Juden klar und feierlich ab; ein Zitat daraus oder ein Verweis etwa auf die gute Erklärung „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum vom 24. Juni 1985 hätten genügt (vgl. dort die Nummern 21-22 zum „heiklen Problem der Verantwortlichkeit für Christi Tod“).

Irritation gab es erst 2008 durch die vom Papst selbst formulierte neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, „damit sie Jesus Christus erkennen“, noch mehr durch seine Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft 2009, die – wie er seit Jahren wusste – die Konzilserklärungen (bis heute!) ablehnen, ebenso Besuche der Päpste in Synagogen, folglich auch den Dialog mit Juden, dafür aber Judenmission vertreten. Dagegen kann man bei Benedikt lesen: „Im Anschluss an Röm 11,25 muss sich die Kirche nicht um die Bekehrung der Juden bemühen“ (60). Leider ist dieser Satz nur ein Zitat von Hildegard Brem, aber immerhin. Ein „mit Recht“ hätte wirklich Anlass für Juden gegeben, dem Papst zu danken.

Das hätte aber die Lesart der Kirchenväter gesprengt; sie lesen das Neue Testament als Verdrängung und Überbietung des Alten. Der Papst auch, wie ein Satz wie „Jesus ist im Glauben der Christen die Tora in Person“ (108) belegen kann. Den Antijudaismus der Kirchenväter teilt er Gott Dank nicht. In den Evangelien ist Jesus Lehrer der Tora Gottes, er aktualisiert sie. War für Jesus und die Propheten die Drohung der Tempelzerstörung und des Exils ein letztes pädagogisches Mittel, um auf die Zuhörer einzuwirken, so blickten die Evangelisten auf die Tempelzerstörung im Jahre 70 zurück. Nach Benedikt aber „wusste“ schon Jesus, „dass die Zeit dieses Tempels vorbei war und dass Neues kommen würde, das mit seinem Tod und seiner Auferstehung zusammenhing.“ (51) Dies ist die dogmatische Lehre aus der nachneutestamentlichen Zeit, als der jüdische und der christliche Weg sich trennten.

Fazit: Benedikt XVI. lebt mit der Bibel und entwirft eine geistliche, in sich konsistente Schriftlesung im Geist der Kirchenväter. Damit können Juden leben, da so das Christentum analog zum Islam auf Distanz bleibt. Einigen jüdischen Repräsentanten des internationalen Judentums kommt dieses Konzept sogar sehr entgegen, wenn nur Begriffe wie „Kollektivschuld am Tod Jesu“ oder „Judenmission“ fehlen. Man braucht sich theologisch nicht auf die Gemeinsamkeiten und auf die wirklichen Unterschiede im Glauben einzulassen.

Da der Papst nicht eine christliche Deutung von Tod und Auferstehung Jesu in der Sicht der Kirchenväter und deren christologische Lektüre des Alten Testamentes vorlegen wollte, sondern den „realen Jesus“ aus seinem jüdischem Kontext dem Leser verständlich machen möchte, löst er Jesus aus dem damaligen vielgestaltigen Judentum heraus. Dies bringt den christlich-jüdischen Dialog nicht weiter, im Gegenteil.

Seine Position belegt auch das zeitgleich erschienene nachsynodale Schreiben des Papstes „Wort des Herrn“ vom September 2010, in dem nicht die Kontinuität des christlichen zum jüdischen Glauben, sondern mit Kritik an Papst Johannes Paul II. der „tiefe und radikale Unterschied“ und der „Bruch“ zwischen Christen und Juden betont werden (Artikel 43). Auch hier spricht Papst Benedikt XVI. Es geht nicht wie im Jesus-Buch behauptet, um „Details“, die „immer zu diskutieren bleiben“ (14), sondern um die Sache der Theologie und des christlichen Glaubens in der unaufhebbaren Verwurzelung im jüdischen Glauben.


Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien in:
Publik-Forum Nr. 7 vom 8.April 2011, 38-40



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Der Autor

HUBERT FRANKEMÖLLE

Prof. em. Dr. theol.; katholischer Neutestamentler (1969-1979 in Münster, 1979-2004 in Paderborn). Von 2000 bis 2010 im Bundesvorstand des Deutschen Koordinierungsrates (DKR) der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; seit 1997 Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), seit 2007 Mitglied der „Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“ der Deutschen Bischofskonferenz. Zahlreiche Veröffentlichungen auch zu jüdisch-christlichen Themen.  


Kontakt zum Autor über:
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