ONLINE-EXTRA Nr. 294
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Teil 2 des Textes von Maximilian Gottschlich: "Die tiefreichenden Wurzeln des (europäischen) Antisemitismus"
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Online-Extra Nr. 294
2. Verdrängte Schuld – zur Psychopathologie des Antisemitismus
Eng verflochten mit diesem in die Tiefe der Religions- und Bewusstseinsgeschichte führenden Wurzelstrang des Antisemitismus ist ein zweiter Strang, der mit dem tiefenpsychologischen Mechanismus der Schuldabwehr zusammenhängt und der auch für die mannigfaltigen Erscheinungen des modernen Antisemitismus verantwortlich ist.
Schon in den 1940er-Jahren haben die Väter der Antisemitismusforschung, unter ihnen der Psychoanalytiker Ernst Simmel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer – alle sind in den 1930er-Jahren auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigriert –, den Antisemitismus als komplexes psychologisches und zugleich soziologisches Problem beschrieben. Einleitend war davon schon die Rede. Diese Pioniere der Antisemitismusforschung sahen im Antisemitismus das Symptom einer kranken Gesellschaft, sie waren der begründeten Überzeugung, vom Antisemitismus als einer „sozialen Krankheit“ zu sprechen. Es handelt sich beim Antisemitismus um ein psychopathologisches Problemgeschehen, bei dem sich vielfach ungelöste Konflikte im Individuum mit Konflikten zwischen dem Einzelnen und seinem sozialen Umfeld amalgamieren. Mit diesen ungelösten Konflikten geht auch irrationaler Hass einher, der danach drängt, nach außen, auf ein äußeres Objekt projiziert und legitimiert zu werden. Und dazu dienen seit jeher die Juden, die seit alters her in der Funktion des Sündenbocks für alles Elend und Unglück in der Welt stellvertretend herhalten müssen.
Alice Miller hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Judenhass zu allen Zeiten eine entwicklungspsychologisch erklärbare Ventilfunktion hatte: nämlich den im Menschen von Kindheit an aus verschiedenen Gründen aufgestauten, aber aufgrund eines engen Tugendkorsetts nicht zugelassen Hass abzuführen bzw. zu kanalisieren. Das geschehe dadurch, dass der innerlich empfundene Hass nach außen hin projiziert werde. Miller zufolge werden Juden nicht deshalb gehasst, weil sie etwas Bestimmtes tun oder nicht tun. Denn alles, was Juden tun oder nicht tun, das würde sich auch bei Nichtjuden finden. Sondern, so ist Miller überzeugt, man hasse die Juden, weil man unerlaubten Hass in sich trage und begierig sei, ihn zu legitimieren. Das jüdische Volk eigne sich für diese Legitimierung in besonderem Maße. Weil seine Verfolgung seit zwei Jahrtausenden von höchsten kirchlichen und staatlichen Autoritäten ausgeübt wurde, brauche man sich des eigenen Judenhasses nicht zu schämen, nicht einmal dann, wenn man mit strengsten moralischen Prinzipien aufgewachsen sei und sich für die natürlichsten Regungen der Seele sonst zu schämen hätte. In Zeiten des endemisch sich verbreitenden Hasses in den sozialen Netzwerken sind die Schamgrenzen, was Judenhass betrifft, ohnehin gefallen.
Aus psychoanalytischer Sicht hängt dieser unerlaubte Hass in den Menschen vielfach mit frühkindlichen Erfahrungen der Zurückweisung und des Liebesverlusts durch die Eltern zusammen. Dies führt zu Ängsten und Aggressionen, die das Kind als unerlaubt erlebt und daher verdrängt. In späteren Jahren kann diese Aggression nach außen projiziert werden. Einen solchen unerlaubten Hass ortet Alice Miller bei Hitler auf Grund einer tief gestörten Vaterbeziehung – der junge Adolf litt unter einem gewalttätigen Vater. Und er litt unter einer tabuisierten Familiengeschichte, nämlich einer totgeschwiegenen und für den jungen Hitler verwirrenden Abstammungsfrage rund um einen möglichen jüdischen Einfluss in seiner Familie. Für Miller schien es nur folgerichtig, dass Hitler diesen aufgestauten Hass dann, als er zur Macht kam, abzuführen suchte. Dazu brauchte er, Miller zufolge, nur „den einzigen in der abendländischen Tradition legitimierten Haß zur höchsten Tugend des arischen Menschen zu proklamieren“. Darin liege nach Miller der tiefere Grund, warum sich der Antisemitismus immer wieder zu erneuern vermag, warum er so etwas wie eine historische Konstante darstelle: weil auch der „unerlaubte Hass“ eine historische Konstante sei und eben vorzugsweise im Antisemitismus seit zwei Jahrtausenden seine Legitimation erhalte.
Schuldabwehr, Schuldprojektion und Schuldumkehr – zur Tiefenstruktur des sekundären Antisemitismus
Mit Auschwitz und der Vernichtung von zwei Drittel des europäischen Judentums durch die Nazis war der Antisemitismus nicht zu Ende – er ging nach dem Krieg nur in den Untergrund. Der Nachkriegsantisemitismus richtete es sich gleichsam im toten Winkel der öffentlich-politischen Aufmerksamkeit ein. Zwar erinnerten die wenigen großen Naziprozesse an die Verbrechen an den Juden, aber diese Erinnerung wurde als Teil der dunklen Vergangenheit Deutschlands und Österreichs eher archivarisch abgelegt, als dass sie als moralischer Auftrag für die Gegenwart und Zukunft verstanden worden wären. Das hing auch mit dem nur mäßig entwickelten politischen Bewusstsein in den Jahren nach dem Krieg zusammen. Nicht nur die Niederlage wurde innerlich nicht ratifiziert, sondern es unterblieb auch die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Er wurde totgeschwiegen.
Von den beiden prinzipiellen Möglichkeiten, mit dieser Schuldenlast umzugehen, nämlich Auseinandersetzung und Bearbeitung oder Verdrängung, hat die Verdrängung obsiegt. So wurde die Nachkriegszeit eine Zeit des Vergessens – eines gerichteten Vergessens im tiefenpsychologischen Sinn, weil die schuldhafte Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus mit der Selbstachtung, dem Gewissen des Einzelnen unvereinbar war. In den Jahren und Jahrzehnten des materiellen Wiederaufbaus nach 1945 und der wirtschaftlichen Prosperität mutierte der Rassenantisemitismus der Nazizeit zu einer neuen Form: zum Schuldumkehrantisemitismus. Gemeinsam mit anderen Formen des Nachkriegsantisemitismus zählt der Schuldumkehrantisemitismus zum so genannten sekundären Antisemitismus, wozu auch Holocaustleugnung und Holocaustrelativierung gehören. Verdrängte Schuld äußert sich meist in Form von Rationalisierung und Projektion.
Die Täter-Opfer-Umkehr ist eine häufige Form der Rationalisierung: Der Antisemit gesteht sich den irrationalen, also grundlosen und verborgenen Hass auf die Juden nicht ein und sucht plausible Gründe zur Rechtfertigung dieses Hasses. Dieser Mechanismus der Übertragung diente seit der Antike dazu, die Verbrechen an den Juden dadurch zu rechtfertigen, dass die Täter die Schuld für diese Verbrechen ihren Opfern unterschoben. So konnten diese Verbrechen legitimiert und die Täter von jeder Schuld psychisch entlastet werden.
Täter-Opfer-Umkehr
Der sekundäre Antisemitismus, also der Antisemitismus nicht trotz Auschwitz, sondern wegen Auschwitz, folgt diesen Mustern verdrängter Schuld. Rationalisierung von Schuld manifestiert sich meist in Form von Schuldabwehr, wozu auch Schuldleugnung, Schuldumkehr und Schuldprojektion zählen. Die Schuldgefüh le werden dadurch zu vermindern gesucht, dass ein wie immer gearteter, imaginierter „Sinn“ in die Vernichtung der Juden „rückprojiziert“ wird.
Noch Jahrzehnte nach Kriegsende liefern die Daten einschlägiger Befragungen ein erschreckendes Bild der Schuldabwehr und Schuldleugnung bei großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland und Österreich. So gab nahezu jeder fünfte Österreicher noch 40 Jahre nach Kriegsende, 1986, offen zu Protokoll, „dass die Ausrottung der Juden auch positive Auswirkungen für Österreich gehabt habe“. Etwa jeder vierte Deutsche (24 Prozent) und Österreicher (28 Prozent) ist heute immer noch der Meinung, dass die Juden selbst an ihrer Verfolgung in der Geschichte schuld seien. 62 Prozent aller Deutschen sind es leid, „immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören“. Jeder zweite Österreicher ist dafür, dass „endlich Schluss sein soll mit dem Erinnern“. Täter-Opfer-Umkehr und Flucht aus der Geschichte sind zwei Seiten der Verdrängung in der Post-Holocaust-Ära. Man wollte mit diesem Antisemitismus der Nazizeit nichts zu tun haben und hat ihn daher aus dem öffentlichen Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft verbannt – in der irrigen Annahme, ihm damit das Handwerk gelegt zu haben. In die Latenz verbannt, richtete der Antisemitismus zunächst auch keine größeren Schäden an – er schien gezähmt und an den kontrollierten rechten Rand der Gesellschaft verbannt. Solange, bis der jüdische Staat ins Zentrum des öffentlichen Interesses rückte – da war der Antisemitismus plötzlich wieder da: getarnt als Antizionismus und Antiisraelismus.
Mit beiden Formen des modernen Antisemitismus ist eine kollektive psychische Entlastungsstrategie verbunden: Um die immer noch belastende schuldhafte Vergangenheit der Tätergesellschaften, der Deutschen und Österreicher, möglichst auszublenden, muss der Fokus nur scharf genug auf die vermeintliche Schuld der Opfer und damit des jüdischen Staates gerichtet werden. Entlastung der Tätergesellschaften durch Schuldprojektion und Schuldumkehr besteht darin, die Verbrechen des Nationalsozialismus – Rassismus, ethnische Säuberungen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit – nun dem jüdischen Staat Israel vorzuwerfen. In der perversen Logik der Antisemiten wird damit das moralische Gefälle zwischen Opfern und Tätern eingeebnet. Je besser es gelingt, Israel unter Daueranklage zu stellen, es zum Täter zu stempeln, desto leichter fällt es, die Täter von gestern zu entlasten. Dieser Mechanismus der psychischen Entlastung durch Schuldumkehr ist heute genauso treibendes Motiv wie für die Generation der Täter, Mittäter und Mitläufer nach dem Krieg. Denn historische Schuld, die nicht bearbeitet wird, weil man sich nicht damit konfrontiert, geht als schwere Hypothek von einer Generation auf die nächste über. Deswegen stirbt die Täter-Opfer-Umkehr auch nicht mit den Tätern, sondern lebt in deren Nachkommen weiter.
Der europäische Antizionismus und die europäische Israelkritik stehen vorwiegend im Dienst eines solchen sekundären Antisemitismus, eines Antisemitismus der Täter-Opfer-Umkehr. Denn die Existenz des jüdischen Staates erinnert an die unsühnbare, unvergängliche Schuld für das unsühnbare, unvergängliche Leid, das die Juden erleiden mussten. Nichts wünschen die Antisemiten aller Schattierungen mehr, als dieses unangenehme, mahnende Gewissen endlich zum Schweigen zu bringen. Die Juden – wo immer sie leben – sind das schlechte Gewissen der anderen, sie sind das Ärgernis, weil ihre Existenz die Verdrängung nicht zulässt. Das ist einer der zentralen, verborgenen Gründe, warum die Juden gehasst werden und warum man den jüdischen Staat hasst.
Israelkritik im Dienst psychischer Entlastung
Antiisraelismus und Antizionismus beleben „den Mythos von der ‚ewig bösen Natur der Juden‘“ (R. Ruether), um damit dem jüdischen Volk das Recht abzusprechen, als Volk im eigenen Land zu leben. Dieses Bemühen, die Legitimität der Existenz Israels infrage zu stellen, findet in der nazivergleichenden Israelkritik seinen besonders blasphemischen Ausdruck. 2012 stimmten 42 Prozent der von uns repräsentativ befragten Österreicher der Aussage zu: „Die Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern genauso wie die Nazis gegenüber den Juden.“ Ähnlich hohe Zustimmungsbereitschaft findet sich in der deutschen Bevölkerung. Diese von Antisemiten propagierte Gleichsetzung Israels mit dem Naziregime bezeichnete der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks als „blasphemische Verkehrung“. Dahinter steht die gleiche psychische Entlastungsstrategie, wie sie schon nach dem Krieg angewandt wurde; nur hat sie heute den jüdischen Staat zum Objekt und erhält durch das Geschehen im Nahostkonflikt immer wieder neue Nahrung. Und hier beginnt sich der europäische Umkehrantisemitismus mit dem islamischen und radikal islamistischen Antisemitismus zu amalgamieren. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist überzeugt, dass Israel einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ führt.
Wenn man Israel all die Verbrechen der Nazis andichten kann, dann fällt auch der Opferstatus des jüdischen Volkes und mit ihm die Legitimationsgrundlage des jüdischen Staates, nämlich die Singularität des Verbrechens der Shoah. Damit in der antisemitischen Weltanschauung die Shoah ausgeblendet bleiben kann, muss auch der historische Zusammenhang zwischen der Shoah und der Gründung des jüdischen Staates ausgeblendet werden. Dieser Verdrängungsmechanismus funktioniert auch andersherum: Nur wenn es gelingt, den jüdischen Staat von seiner Entstehungsgeschichte zu trennen, lässt sich auch die Shoah und die Opfergeschichte der Juden ausblenden. Die antisemitische Israelkritik zielt – bewusst oder unbewusst – darauf ab, diesen zentralen, mit der Identität des jüdischen Staates zusammenhängenden Legitimationszusammenhang aufzubrechen.
Im krausen Vorstellungsbild der Antisemiten lässt sich die vermeintliche Schuld des jüdischen Staates gegen die Schuld der Nazis aufwiegen. Um nochmals auf diese psychische Entlastungsstrategie von Hass und Schuld zu verweisen: Wenn sich zeigen lässt, dass die Opfer nicht besser sind als die Täter, dann entlastet dies die Mitglieder der Tätergesellschaften von historischer Schuld und rechtfertigt den Hass, den sie aus vielfältigen Gründen in sich tragen und so nach außen, auf „die Juden“, auf „die Israelis“ projizieren können. Die nazivergleichende Israelkritik ist die perverseste Form des Umkehrantisemitismus. So als würde sich die Siedlungspolitik in der Westbank mit der Hitler’schen Aggressionspolitik vergleichen lassen oder die Situation im Gazastreifen mit derjenigen in Konzentrationslagern – ein Vergleich übrigens, vor dem selbst kirchliche Repräsentanten nicht zurückschrecken.
Die Antisemiten von links bis rechts, religiös bis atheistisch, sind von dem blinden Ehrgeiz getrieben, diesen Opferstatuts des jüdischen Volkes gleichsam zu demaskieren – was am besten dadurch geschehen kann, wenn die Opfer von damals zu Tätern von heute gemacht werden. Das ist der tiefere, psychologische Grund dafür, Israel permanent auf der öffentlichen Anklagebank zu halten. Ganz gleich, was die jüdische Regierung macht oder nicht macht, sie steht unter Anklage und Schuldverdacht. Die Juden und der „kollektive Jude“ Israel sind schuldig, weil sie in der Wahrnehmung der Antisemiten schuldig sein müssen. Daher sind die Anlässe der Entrüstung über Israel austauschbar. Der Antisemitismus in Gestalt des Antizionismus sucht sich die politischen Anlässe, an denen er sich entzünden kann.
Im Jänner 2015 hielten die Vereinten Nationen zum ersten Mal in der Geschichte eine Sondersitzung zum Thema Antisemitismus ab. Bei dieser Gelegenheit sagte der als Gastredner geladene französische Philosoph Bernard-Henri Lévy: „Israel trägt manchmal mit seiner Politik zur Ablehnung von Juden bei. Aber das ist etwas anderes als der Antisemitismus, um den es hier geht. Selbst wenn Israel eine Nation von Engeln wäre, selbst wenn Israel sein Land weggeben würde, würde sich am Hass gegen Israel kein Jota ändern.“ Und er ergänzte: „Die Judenhasser hassen Juden, einfach weil sie da sind.“ Und zwar eben deswegen, weil ihre Existenz mit unangenehmer Erinnerung an verdrängte historische Schuld verbunden ist – eine Last, die unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben wird. Nichts wünschen die Antisemiten aller Schattierungen mehr, als dieses unangenehme, mahnende Gewissen endlich zum Schweigen zu bringen.
Der jüdische Staat ist eine ständige Erinnerung daran, dass viele im Dritten Reich schuldig geworden sind: durch Sympathisieren, Mittun, Wegschauen, Ignorieren oder Rationalisieren. Jede Verdrängung drängt ins Bewusstsein und verursacht eine unbestimmte „wesenlose“ Angst, die – wie man aus der Tiefenpsychologie weiß – als existenzielle Bedrohung der persönlichen Integrität empfunden wird. Um sich von dieser unbestimmten Angst zu befreien, werden Kausalitäten hergestellt, es wird also rationalisiert. Und hier kommt der „kollektive Jude“ Israel wieder ins Spiel: Israel wird als äußere Bedrohung des Weltfriedens empfunden, während es sich dabei in Wirklichkeit um die Rationalisierung der inneren Bedrohung durch die ins Bewusstsein drängenden antisemitischen Aggressionen und Schuldgefühle handelt. Die Antisemiten versuchen andauernd, sich und andere davon zu überzeugen, dass ihre Abneigung und ihr Hass gegen alles Jüdische berechtigt sei – aber diese imaginierte Gewissheit ist höchst brüchig und bedarf immer neuer Legitimation, wofür der Nahostkonflikt ein schier unerschöpfliches Reservoir bereitstellt.
Ein weiteres, meist unausgesprochenes Motiv für die geballte Aversion gegen den jüdischen Staat, speziell linker Judengegner in Europa, hängt mit der weit verbreiteten Sicht des Judentums als reaktionäres, gesetzestreues Glaubenssystem zusammen. Aus einem antireligiösen Reflex heraus erscheint der jüdische Staat und sein nationalreligiöses Selbstverständnis vielen als suspekt. Deswegen schießt sich insbesondere die europäische Linke auf die religiösen Siedler in der Westbank ein, die als Haupthindernis für den Frieden in Nahost gesehen werden. Der deutsch-israelische Schriftsteller Chaim Noll verweist im Zusammenhang mit den religiösen Siedlern darauf, dass gerade religiöse Juden am sichtbarsten eine im jüdischen Volk gewachsene Neigung zu spiritueller Introvertiertheit und historisch motivierten Nationalismus verkörpern und dass diese beiden Positionen mit einer linken Weltsicht unvereinbar sind.
BÜCHER von MAXIMILIAN GOTTSCHLICH
3. Imaginierte Bedrohung und Rivalitätskonflikte – zur psychosozialen Dimension des Antisemitismus
Unter den verschiedensten Formen der Rationalisierung des Hasses gegen Juden kommt dem Topos der „jüdischen Bedrohung“ ein besonderer Stellenwert zu. Die Bedrohung der moralischen, kulturellen und nationalen Identität der Wir-Gruppe und die Sicht auf die Juden als „Fremdkörper“ ist konstanter Bestandteil antisemitischer Mythenbildung über Juden. Der kulturelle Antisemitismus sah in den Juden zu allen Zeiten eine Bedrohung der kulturellen Identität der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Der ökonomische Antisemitismus sah seit dem 19. Jahrhundert im „Finanzjudentum“ eine Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen Sicherheit und Prosperität. Der Kampf gegen diese imaginierte Bedrohung diente der Stärkung des nationalen und kulturellen Zusammenhalts. Zu allen Zeiten suchte sich der irrationale, antisemitische Vernichtungswille mit sozial akzeptierten, religiösen, moralischen oder vermeintlich rational einsehbaren Gründen zu rechtfertigen. Der antisemitische Mythos der Bedrohung durch die Juden ist eine historische Konstante und wirkt als negative Leitidee bis in unsere Tage.
Imaginierte Bedrohung
Schon die antike Welt operierte mit der „Bedrohung“ der griechischen und römischen Gesellschaften durch den „Menschenhass“ der „barbarischen“ Juden, ihrer Assimilationsverweigerung und ihren fremden kultischen Riten. Daran knüpfte die „Bedrohung“ der christlichen Identität durch die Juden an: Dies führte durch 1.500 Jahre zu sozialer Ausgrenzung, Unterdrückung sowie zu systematischer Verfolgung und Vertreibung durch Staat und Kirche. Durch alle Jahrhunderte sah die Kirche in den Juden eine „Bedrohung“ der christlichen Moral. Die paranoide Vorstellung, in allem Jüdischen eine heimtückische, ansteckende Krankheit zu sehen, die den christlichen Glauben und den nichtjüdischen Menschen insgesamt bedrohe, führte zur systematischen Ausgrenzung und Erniedrigung der Juden. Im Rassenantisemitismus des Nazismus mündete diese die Jahrhunderte überdauernde, paranoide Idee der „jüdischen Verunreinigung“ schließlich in die „Endlösung der Judenfrage“. Heute noch glaubt jeder sechste Österreicher, dass die Juden an der Auflösung kultureller und sittlicher Werte schuld seien. Nur am Rande sei angemerkt, dass diese zählebige, wahnhaf te antisemitische Vorstellung von der bedrohlichen „jüdischen Verunreinigung“ auch nach dem Holocaust weiterlebt. Noch im Jahr 1986 stimmte jeder fünfte Österreicher (22 Prozent) der Aussage zu: „Wenn ich einem Juden die Hand gebe, fühle ich ein Gefühl des persönlichen Widerwillens.“
Im Zeitalter der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert war es die „Bedrohung“, die aus einem Unterlegenheitsgefühl der nichtjüdischen, auf die materiellen und sozialen Erfolge der Juden eifersüchtige Bevölkerung resultierte. Die nationalsozialistische Rassenpolitik rechtfertigte die Vernichtung der Juden mit der „Bedrohung“ der „germanischen Rasse“ durch die „hebräischen Volksverderber“.
Die Geschichte zeigt, dass die Behauptung der „Bedrohung“ stets dazu diente, den Vernichtungswillen gegenüber den Juden zu rechtfertigen – gleichviel, ob dieser Vernichtungswille ausgelebt wird oder sich „nur“ als gedankliches Konstrukt eines destruktiven Vorurteils gegen alles Jüdische manifestiert. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diesen verhängnisvollen Zusammenhang so beschrieben: „Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen. Die Rationalisierung war eine Finte und zwanghaft zugleich. Der als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen.“ Der Hass auf die Juden ging immer schon seiner vermeintlichen Rechtfertigung, also Rationalisierung durch Bedrohungsfantasien voraus.
Heute werden Bedrohungsbilder im Kontext der Globalisierung und der ökonomischen Krise auf Juden und den jüdischen Staat projiziert: Jeder zweite Europäer ist davon überzeugt, dass der jüdische Staat die „größte Bedrohung für den Weltfrieden“ ist. 12 Prozent der Europäer sind der Meinung, dass die Juden für die meisten Kriege in der Welt verantwortlich sind. Jeder dritte Europäer macht die Juden für die globale Finanzkrise verantwortlich. Weiters glaubt jeder dritte Europäer, dass die Juden zu viel Macht auf die internationalen Finanzmärkte haben. 19 Prozent der Ost- und der Westdeutschen empfinden das Judentum als bedrohlich.
Die Bedrohungsszenarien gehen mit der Zeit, und so auch das anpassungsfähige destruktive Vorurteil – der dahinterstehende Hass aber bleibt der gleiche, der er immer schon war.
Rivalitätskonflikte – der Faktor „Begehren“
Zum psychosozialen Konfliktgeschehen, das psychopathologische Züge annehmen kann, zählt auch das Begehren. Das Begehren ist seit jeher Ursache für Rivalitätskonflikte, die gemeinschaftliches Zusammenleben vergiften und in weiterer Konsequenz in gesellschaftliche Gewalt münden können. Im Zusammenhang mit dem Hass gegen Juden bedeutet dies Folgendes: Die Antisemiten sehen in den Juden diejenigen, die sie daran hindern, alles haben zu können, was sie begehren und von dem sie glauben, dass es die Juden haben. Finanz- und Wirtschaftskrisen sind der Treibsatz für dieses verborgene Motiv der Aversion und Aggression gegenüber den Juden. Aber auch dem Begehren liegt letztlich ein nach außen hin projizierter Selbsthass zugrunde. Selbstabneigung und Selbsthass gehen mit der Erfahrung des eigenen Ungenügens, des eigenen Mangels einher. Es ist dies die Erfahrung der Begrenztheit des eigenen Wollens, des eigenen Haben-Könnens. Der Antisemit projiziert diese Mangel-Erfahrung, diese Enttäuschung, auf die Juden, von denen er glaubt, dass sie all das haben, was er nicht hat. Der Antisemit sucht die Schuld für sein empfundenes Unvermögen, für den empfundenen Mangel bei anderen und findet sie bei den Juden. Die Juden stehen für den Antisemiten in der Situation der Privilegierten. Der Antisemit sieht in den Juden diejenigen, die der Erfüllung seiner Wünsche im Weg stehen. Alles wäre gut, denkt der Antisemit, gäbe es die Juden nicht.
Ökonomische und soziale Krisen verschärfen dieses rivalisierende Begehren, aus dem sich – als einer Quelle neben anderen – der Judenhass speist. Diese Krisen sind aber nicht die Ursache für den wachsenden Antisemitismus, sondern nur dessen aktueller, austauschbarer Anlass. Sie verleihen dieser fixen Idee der Antisemiten, dass die Juden an allem empfundenen Mangel schuld seien, bloß eine neue Dringlichkeit, aber sie bringen diese Idee nicht erst hervor. In der Krise wird der Antisemit noch mehr und unmittelbarer mit der Begrenztheit seines Wollens und Wünschens konfrontiert als in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität. Er stößt noch schneller an seine Grenzen, ist noch unmittelbarer mit seinem Unvermögen konfrontiert, all das erreichen zu können, was ihm begehrenswert erscheint. Dafür hasst er sich unbewusst, und weil der Antisemit von der Meinung besessen ist, die Juden stünden der Erreichung aller seiner Ziele entgegen, projiziert er diesen Hass auf sie. Folgt man diesem tiefenpsychologischen Erklärungsmodell der Selbstabneigung und des Selbsthasses, dann erklärt sich auch, warum der ökonomische Antisemitismus so hohe Konstanz und weite Verbreitung hat: in ihm spiegelt sich das menschliche Grundmotiv des Begehrens in seiner quälenden dialektischen Spannung von Erfüllung und Versagung wider. Das Problem des Antisemiten ist es, dass er die schmerzvolle Erfahrung eines letztlich nie zu befriedigenden Mangels, die Konfrontation mit dem eigenen empfundenen Ungenügen als Scheitern erlebt, aber für dieses Scheitern nicht sich selbst, sondern andere – vorzugsweise die Juden – verantwortlich macht. Auch auf dieser psychosozialen Ebene zeigt sich: Schuldprojektion ist genauso wie Schuldumkehr eine Entlastungsstrategie, mit deren Hilfe das gefährdete psychische Gleichgewicht – zumindest vordergründig – wiederhergestellt werden kann. In diesem psychischen Mechanismus lässt sich einer der maßgeblichen Gründe dafür erkennen, warum sich die Judeophobie – allen vernünftigen Erwartungen zum Trotz – im Genozid nicht erschöpft hat …
Wie hoch auch immer das heuristische Potenzial dieser sozial- und tiefenpsychologischen Erklärungsversuche zum Antisemitismus eingeschätzt werden mag – eines sollte jedenfalls deutlich geworden sein: Wir brauchen andere, grundlegendere Antworten auf den Antisemitismus, als wir sie bisher gegeben haben. Mit den Mitteln der Aufklärung allein lässt sich der Antisemitismus und seine wachsende Verbreitung nicht bekämpfen, wie die vergangenen Jahre und Jahrzehnte gezeigt haben. Die Frage lautet also: Wie kann die Macht des destruktiven Vorurteils gebrochen, wie kann der sich in der Gesellschaft endemisch ausbreitende Hass eingedämmt werden? Die therapeutische Antwort kann nur lauten: Nur durch eine neue Kultur des Mitgefühls – Mitgefühl für das unschuldige Leiden, für das Leid Unschuldiger. Kann es eine andere, nachhaltigere Antwort geben als diese? Dazu bedarf es einer grundsätzlichen Neuorientierung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Mitgefühl, so formulierte es einmal der Psychoanalytiker Arno Gruen, ist die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen.
Wenn es ein bleibendes Vermächtnis von Auschwitz gibt, dann liegt dieses Vermächtnis wohl in der durch nichts und niemanden zu besänftigenden Mahnung, diese Flamme des Mitgefühls nicht noch einmal erlöschen zu lassen …
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Prof. Dr., 1948 in Wien geboren, ist emeritierter Universitätsprofessor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Gottschlich stammt aus einer jüdisch-christlichen Familie; seine jüdische Großmutter Clara war Tochter des jüdischen Arztes, sozialdemokratischen Politikers und Publizisten Michael Schacherl, u. a. steirischer Abgeordneter in der konstituierenden Nationalversammlung und von 1921 bis 1934 Zweiter Chefredakteur der legendären Arbeiter-Zeitung. Dieser biografische Hintergrund motivierte Maximilian Gottschlich, sich intensiv auch mit Fragen jüdisch-christlicher Verständigung sowie mit den Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus auseinanderzusetzen. Zuletzt erschien von ihm zu dieser Thematik: „Versöhnung. Spiritualität zwischen Thora und Kreuz. Spurensuche eines Grenzgängers, Wien/Köln/Weimar 2008; „Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit“, Wien 2012; „Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus“ Paderborn 2015.
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