Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331
02.06.2016 - Nr. 1647

München soll nicht stolpern



Hitlers Familiengeschichte muss korrigiert werden



Von Berthold Seewald | Im Pfarrarchiv von Braunau am Inn hat ein Geschichtsforscher Beweise entdeckt, dass Hitler die Geburt eines behinderten Bruders erlebt hat. Generationen von Hitler-Biografen sahen das anders...

Das Geheimnis um Hitlers kleinen Bruder

[DER STANDARD (Österreich)]
Von Colette M. Schmidt | Geburtsjahr des mit fünf Tagen verstorbenen Buben über 60 Jahre falsch tradiert...

Gemälde aus Sammlung Mosse für 850 000 Euro versteigert



Der Verleger Rudolf Mosse baute eine der wichtigsten Kunstsammlungen in Deutschland vor 1933 auf. Nach der NS-Machtübernahme wurde sie zerschlagen. Jetzt haben drei Werke neue Besitzer...




Stolperstein-Befürworter scheitern mit Klage



Es bleibt vorerst beim umstrittenen Verbot von Stolpersteinen in München. Aktivisten wollten das nicht hinnehmen und hatten geklagt. Doch das Gericht gibt der Landeshauptstadt recht...

München soll nicht stolpern

[TAZ]
Von Margarete Moulin | Stolperstein-Befürworter klagten auf das Recht einer Sondernutzungserlaubnis. Das Münchner Verwaltungsgericht weist das ab...



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Original-Beitrag



Nachfolgend lesen Sie einen Original-Beitrag der Politologin und freien Redakteurin Soraya Levin.
Sie betreibt u.a. eine eigene Internetseite, auf der sie regelmäßig neue Bücher zum Schmökern,
Entspannen und Nachdenken vorstellt:
LIPOLA - LITERARISCHE UND POLITISCHE AKZENTE
Lipola

COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe ihrer Rezension an dieser Stelle.


Nejusch
Das Glück hat mich umarmt


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Es ist dieser erdrückende Panzer des Schweigens, unter dem sich unausgesprochene Vermutungen, Ängste, gefangene Emotionen, Erwartungen und eine tiefe Traurigkeit verbergen.



„Es stinkt erbärmlich nach Vergangenheit“, schreibt die Tochter von Holocaustüberlebenden in ihrem Briefroman "Das Glück hat mich umarmt". Es ist eigentlich Müll, der stinkt und langsam vor sich hin vermodert, bis er sich irgendwann aufgelöst hat. Nur die Vergangenheit kann nicht wie sich zersetzender Abfall beseitigt werden. Denn sie bildet den Kompass für das, was folgt. Diese Briefe, geschrieben an den nichtjüdischen fiktiven deutschen Freund, versuchen das Schweigen und die Sprachlosigkeit nach der Shoah zu durchbrechen. Sie versuchen Antworten zu finden auf das schwere Vermächtnis für die Nachgeborenen der Opfer, das im Widerspruch zur Wirklichkeit steht. Es sind die Erinnerungen der frühen Kindheit, der Jugend bis zur Zeit des Erwachsenseins, die die Lebensgeschichte der polnisch-jüdischen Familie nachzeichnen. Die Autorin, die unter dem Namen ihrer Großmutter Nejusch schreibt, spiegelt sich und stellvertretend die zweite Holocaustgeneration in diesen Briefen.

Was macht man mit dieser erdrückenden Vergangenheit? Fliehen oder auf Distanz gehen zu denen, die die Vergangenheit verkörpern? Sich in Traumwelten verlieren? Großeltern zaubern, die es nicht gibt?
Da verschwimmt die Wirklichkeit für das kindliche Gemüt, wenn die Eltern ihre geheimen Botschaften auf Polnisch untereinander austauschen und die Mutter auf Jiddisch singt. Warum leben wir in Westberlin, wenn die Heimat doch wo anderes ist? Die polnische elterliche Herkunft, der Weg in die USA und das Hängenbleiben in Westberlin sind für die Briefschreiberin verborgen.

Zahlreiche Warums prägen die Kindheit. Da ist dieser schmerzhafte Ausdruck der Mutter am Shabbat. Auf die kindlichen Fragen antworten die traurigen Gesichter der Eltern. Und immer dieses gut angezogen sein. Für die kindliche Seele ist es noch nicht fassbar, dass Kleidung Identität und Werte bedeutet und dass den Eltern diese Identität und diese Werte während des Nationalsozialismus geraubt worden sind. Die Eltern wollen artige Kinder. Ihre Aggressionsabwehr resultiert aus den selbst erlebten Leiden der Aggression gegen sie. Bloß nicht auffallen, sich nicht zu erkennen geben, in diesem feindlichen Umfeld. Gibt es sie, die jüdischen Nasen? Der Vater will jedenfalls, dass Nejusch sich die Nase operieren lässt. Selbst dick und dünn spielen eine Rolle. Der dauerhafte Hunger ließ für die Eltern kein Dicksein zu. Allein die Kleidungsfarbe braun ist ein Tabu, denn der Naziterror ist braun gewesen.

Sichtbar wird, dass die Eltern sich nicht aus ihrer Trauer und dem Trauma befreien können. Die Erinnerung an die Verfolgung und an die ermordete Familie, die erlittenen Qualen und die zerstörte Heimat überlagern nicht nur den Alltag. Es ist vielmehr wie der Dauerregen einer tränenreichen immer wiederkehrenden Erblast.
Das beschädigte Selbstbild der Eltern versteckt all die Grausamkeiten, die ihnen angetan worden sind. Sie wollen nur eins: ihre Kinder schützen.

Die Mutter fragt provozierend „Was willst du wissen, soll ich dir erzählen, wie sie mir die Zähne ausschlugen?“ und schweigt.
Obwohl niemand darüber spricht, ist die Vergangenheit trotzdem allgegenwärtig. Aus dem Verhalten der Eltern und den Gesprächsfetzen erahnt Nejusch das Ungeheuerliche von Auschwitz, das in ihrer Vorstellung jedoch andere Bilder projiziert. Die Sprachlosigkeit der Eltern schafft eine unbeabsichtigte Distanz.
Es sind die unverständlichen Andeutungen, die hinter der Mauer des Schweigens verborgen sind, die eine Leere entstehen lassen, denn Nejusch gehört nicht zum eingeweihten Kreis. Sie ist ausgegrenzt und verliert ein Stück an Sicherheit.

Wie sehnt sie sich nach der Zuneigung der Mutter, die emotional distanziert ist. Erst mit ihrem Tod gelingt eine behutsame Annäherung. Es ist dieser scheinbare Widerspruch zur Mutterliebe, nach der sich jedes Kind sehnt. Deutlich wird anhand dieses Widerspruchs die transgenerationelle Wirkung der Gefühlsverdrängung während der Zeit der Verfolgung.

Der Schrecken des Naziterrors und der Verlust der Angehörigen transportiert Ängste, die zur übertriebenen Sorge um die eigenen Kinder führen. Freiräume gibt es wenige. Es sind die Sommerfreizeiten in Glienicke, wo die Familie mit anderen jüdisch-polnischen Familien die Sonntage verbringt. Hier können die Kinder mal unbeschwert und weitgehend ohne Kontrolle der Eltern spielen.
Eine beengte Freiheit mit einer innerfamiliären Rollenübernahme, die gekoppelt ist mit Scham, Schuld und Verantwortung, die in der Flucht mündet. Nejuschs Schwester flieht für einige Jahre nach Israel und entkoppelt sich damit vom belasteten Elternhaus. Nejuschs Bruder flieht in den Tod. Sie wollten oder konnten keine Gedenkkerzen mehr sein. Nejusch selbst will auch raus ins Leben und sich selbst finden. Als sie in den 1960er Jahren Israel besucht, fühlt sie sich erstmals zugehörig. Sie geht eine Ehe ein, die letztlich scheitert. Da ist es wieder, das Gefühl nach draußen zu müssen. Mit ihrem kranken Kind ergreift sie die vorübergehende Flucht nach Tel Aviv.
Die Flucht als Schlüssel zur anderen Welt erfüllt sich nicht.

Nejuschs Welt bleibt weiterhin die tiefliegende Vergangenheit der Eltern, die den Alltag durchdringt. Da ist der ungeklärte Selbstmordversuch der Mutter, da erfährt sie erst per Zufall, dass die Eltern in Krakau geheiratet haben, da ist die transportierte Angst aus der Vergangenheit: Angst um die Angehörigen, wenn in Israel Krieg herrscht, Angst sich als Jüdin inmitten des weiterschwelenden Antisemitismus zu erkennen zu geben.
Da ist es symptomatisch, wenn die Nachkommen der Täter keine Empathie entwickeln. Wenn Nejuschs Freundin sie mit Fotos blutiger Pogrome allein lässt. „Das Glück hat mich umarmt, damals“,sagt der Vater, der nach Jahrzehnten sein Schweigen bricht. Der vom blutigen Schlachten in Lemberg erzählt. Von qualvollen Toden in zugeschütteten Straßengräben, den zappelnden Gliedmaßen, die elendig unter dem Sand verenden. Da wird das Töten zum Spiel, mit barbarischer Lust die Babys wie Bälle an die Wand geklatscht. Da bleiben sie, diese furchtbaren Bilder. Da sind die Überlebenden gefesselt in ihrer Sprachlosigkeit und dem Gefühl von Schuld.

Nejusch fragt auch nach der anderen Welt, nach der Wirklichkeit der Täter. Sie haben sich weitgehend ihre Schuld abgestreift. So wie auch Nejuschs lautloser Brieffreund, der nichts mehr vom braunen Sumpf hören will.

In „Das Glück hat mich umarmt“ setzt sich die Autorin mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, die vom Holocaust bestimmt ist, auseinander. Wie eine zweite Haut lastet die Shoah auf den Kindern der Überlebenden. Es ist dieser erdrückende Panzer des Schweigens, unter dem sich unausgesprochene Vermutungen, Ängste, gefangene Emotionen, Erwartungen und eine tiefe Traurigkeit verbergen. Die sich daraus bildenden Identitätskonflikte führen unweigerlich zu der Frage des eigenen Seins. Nejusch ist eine jüdische Berlinerin, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit sucht. Indem die Autorin Nea Weissberg ihren Briefroman nicht nur in der Rolle ihrer Großmutter Nejusch schreibt, sondern auch unter deren Namen publiziert und die Worte ihres Vaters "Das Glück hat mich umarmt" zum Buchtitel macht, wird die niemals abzutragende Hypothek der Shoah sichtbar.
Der „Spiegelfreund“ symbolisiert das gemeinsame Abbild: die verschwiegene Vergangenheit. Da erinnert sich Nejusch an die Kinderfrau Hetti, eine Vertriebene aus Königsberg, die singt „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommernland, Pommernland ist abgebrannt.“. Auch Hetti steht für die Trauer um den Verlust der Heimat und das widersprüchliche Wiegenlied für den eisigen, mitleidlosen Krieg. Ja, auch Hetti ist unzweifelhaft ein Opfer. Wenn Nejuschs Mutter dieses Lied nicht hören möchte, so wird deutlich, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Opfern gibt. Die einen sind Opfer, des Vernichtungswahns der deutschen Mordmaschinerie und die anderen sind die Kriegsopfer, die die Verantwortung für dieses barbarische Verbrechen des Holocausts mit sich tragen.

Während die Nachkommen der Holocaustüberlebenden keinen Befreiungsakt von der Vergangenheit erleben, sondern diese traumatische, nicht schließende Wunde mit sich tragen, streift ein großer Teil der Nachkommen der Täter die Schuld von sich ab. Die Form der Spiegelung mit dem „fiktiven nichtjüdischen Brieffreund“ ist der Versuch, der Macht des Schweigens, des nichtreden Könnens, die Sprache entgegenzusetzen, um die Retraumatisierung für sich selbst und den fiktiven Brieffreund erfahrbar zu machen.
Die wichtige Bedeutung des Sprechens um des Verstehens willen wird sichtbar an dem Auszug aus Viktor Brod „Was Sprache ist“, der zu Beginn und am Ende des Buches steht.

Die für Nejusch emotional sehr belastenden Schritte der Annäherung, führen nicht dazu, dass der fiktive nichtjüdische Brieffreund die Perspektive von Nejusch einnimmt. In den Nachgedanken schreibt Jürgen Müller-Hohagen, dass sich mit Lemberg der freundschaftliche Briefdialog verändert. Müller-Hohagens Hinweis verdeutlicht, dass sich Nejusch auf ein ganz dünnes Eis begeben hat, denn mit Lemberg bekommt die Schuld ein eindeutiges Gesicht. Der Schuldabwehrversuch des nichtjüdischen Brieffreundes verschiebt sich auf die persönliche Ebene seines Gegenübers. Dadurch wird das über Generationen hinweg komplizierte jüdische und nichtjüdische Verhältnis durch das trennende unterschiedliche Erbe sichtbar. Hoffnung gibt die Brücke, die Nejusch baut, indem sie ihre durch die Shoah bestimmte Lebensgeschichte freilegt und sich am Ende trotz der mangelnden Empathie des nichtjüdischen Brieffreundes um eine Annährung bemüht. Deutlich sichtbar an dem Satz „Ich freue mich auf einen Kaffee im Café am Walter Benjamin Platz.“.

Ein sehr fühlbares Buch über die Leiden der zweiten Holocaustgeneration, dass durch eine klare emotionale Offenlegung besticht. Die gewählte Form des Briefromans lässt den Leser an den Emotionen und dem Unausgesprochenen direkt teilhaben. Das Schweigen als Last auf Seiten der Opfer und das Schweigen als Entlastung auf Seiten der Täter ist so direkt spürbar.

Nejusch:
Das Glück hat mich umarmt.
Ein Briefroman.

Herausgegeben von Nea Weissberg
Lichtig-Verlag, Berlin 2008
172 Seiten, EUR 14,90
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© Soraya Levin




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