Soraya Levin rezensiert: "Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg"
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Nachfolgend lesen Sie einen Original-Beitrag der Politologin und freien Redakteurin Soraya Levin.
Sie betreibt u.a. eine eigene Internetseite, auf der sie regelmäßig neue Bücher zum Schmökern,
Entspannen und Nachdenken vorstellt:
LIPOLA - LITERARISCHE UND POLITISCHE AKZENTE
Lipola
COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe ihrer Rezension an dieser Stelle.
Das Gesetz des Blutes.
Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg
Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg
© Soraya Levin
„Die üblichen und vertrauten Normen gelten nicht im Osten, dieser von Untermenschen (Slawen) und Mikroben (Juden) bewohnten Wildnis.“
Diese menschenunwürdige Eingruppierung von Menschen in Form der Rassehierarchie ist ein Fundament der verbrecherischen NS-Ideologie. Der Zeithistoriker Johann Chapoutot geht in seinem Buch „Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg“ intensiv der kulturellen Orientierung der Nationalsozialisten nach. Diese auf einer äußerst vielschichtigen Quellenbasis beruhende Detailstudie zeigt den ideologischen Weg des Naturgesetzes vom Primat der Rasse bis in den Völkermord auf.
Besessen von der germanischen Heldenverehrung und dem sakralen Mythos des deutschen Herrenmenschen beginnt ein Vernichtungsfeldzug unsagbaren Ausmaßes. Bedrohungsszenarien wie ein „Volk ohne Raum“ verlangen und rechtfertigen die Zwangseinnahme von Land in Osteuropa und die Unterwerfung des slawischen Untermenschen. Der philosophische und wissenschaftliche Diskurs des 19. Jahrhunderts über den Sozialdarwinismus bis zur Eugenik untermauert diese rassistische Ideologie. Eine rassistische Ideologie, die die „jüdische“ Aufklärung für die politischen und kulturellen Brüche beim Übergang in die Moderne verantwortlich macht. Eine rassistische Ideologie, deren radikale Kulturkritik die Rückkehr zum Naturzustand einfordert. Eine rassistische Ideologie die, wie Chapoutot aufzeigt, eine einfache und verständliche Antwort liefert: den völkischen Rassismus.
Mit dem Rassegedanken wird die Universalität des Menschen nicht nur in Frage gestellt, sondern beseitigt. Damit einher geht die Umkehr der Moralkonzeption, die die nicht zur Rasse gehörenden Menschen negiert und damit ein schonungsloses und barbarisches Vorgehen gegen sie erlaubt.
Das deutsche Volk als eine für das Individuum sinnstiftende Gemeinschaftsformel und als wiederkehrendes Deutungsmuster für ein radikales Handeln, das die ethnische Homogenität notwendigerweise einfordert. Die Einheit des Volkes und der Rasse als politisches Dogma für das kommende tausendjährige Reich. Der Schlüssel zu dieser arisch-reinen Rasse heißt Entgiftung der bereits durch minderwertiges Leben geschwächten germanischen Rasse. Die staatliche Institution tritt nun an die Stelle der naturgegebenen Selektion, die verlangt, den genetisch deformierten schwachen Fremdkörper auszuradieren. Hierzu zählen die Ballastexistenzen wie Behinderte und sogenannte „Gemeinschaftsfremde“ wie Asoziale, Homosexuelle, Verbrecher, die nichts zum Volkswohl beitragen.
„Für Josef Meisinger, den Leiter der ‚Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘ im Gestapa, kommt die Homosexualität aus dem Osten - wie die Juden, die Pest und die Ratten:“
Der Vorsitzende der Reichsärztekammer dehnt den Begriff der Ballastexistenz sogar bis zu den arischen Alten aus.
Der Arzt ist dem Dienst am ganzen Volk verpflichtet. Da die sogenannten „lebensunwerten“ Menschen nicht zum Volk gehören, hat er dafür zu sorgen, dass diese das Volk nicht schwächen. Die bisher im wissenschaftlichen Diskurs propagierte Eugenik wird nun mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der damit verbundenen Zwangssterilisation in die Tat umgesetzt.
Das Erbgesundheitsgesetz und die Erbgesundheitsgerichte verdeutlichen die Verzahnung der akademischen Berufsstände der Justiz mit der Ärzteschaft. Eine Verzahnung, die schließlich in der Zwangseuthanasie, das heißt im organisierten tausendfachen Mord mündet. Der Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ Robert Ritter ergänzt diese Verzahnung mit dem kriminalbiologischen Aspekt. Der Verbrecher, ein genetisch deformierter Schädling der Volksgemeinschaft.
Die normative bisher gültige Basis für das ethische Handeln der Ärzteschaft ist gekippt und beseitigt. Johann Chapoutot verdeutlicht, dass als Rechtfertigung die Antike herangezogen wird, wo bereits die Rückbesinnung auf die Natur, nämlich Beseitigung des Schwachen, umgesetzt worden ist. Gerade diese Stelle macht sichtbar, dass der Arzt seinen Gewissensbezug neu definiert hat. Man ist nicht Teil eines verbrecherischen Systems. Man schützt nur die gesunde Volksgemeinschaft und erlöst das Lebensunwerte.
Das deutsche Volk muss sich mit revolutionärer Kraft von diesen Infektionen befreien. Infektionen, hervorgerufen durch die Juden, insbesondere die aus dem Osten. Chapoutot zeichnet ein umfassendes Bild dieser antisemitischen Hetze. Es entsteht das Bild eines jüdisch pathogenen Wesens, das nicht nur in das deutsche Volk eingedrungen ist, sondern es hat sich rasant vermehrt und wird restlos zur tödlichen Bedrohung. So ist die Moral verweichlicht worden, das Naturrecht ist abhanden gekommen und durch ein unnötiges Rechtssystem ersetzt, die Kirche ist unter jüdischer Kontrolle und unterstützt die Schwachen, die die Volksgemeinschaft schädigen. Das gesellschaftliche Sittlichkeitsgefühl unterliegt jüdisch-moralischen Sexualgeboten, die die deutsche Rasse aussterben lassen. Chapoutot hat diese Sicht auf den Prozess der Bedrohung und des Substanzverfalls der volkstümlichen Gemeinschaft schrittweise offen gelegt. Der Gemeinschaftsverfall, hervorgerufen durch das jüdische abnorme Konstrukt des Individuums, des Fremden, des Nicht-Ariers, des Nicht-Menschen. Diese völkische Ethik, die den Juden als kriegführenden Kulturzerstörer und Zersetzer der deutschen Rasse benennt, führt über die Nürnberger Rassegesetze zur systematischen Kriminalisierung und bürgerlichen Entrechtung bis in den Völkermord von über sechs Millionen Menschen.
Johann Chapoutot zeichnet mit seinem Buch „Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg“ ein wissenschaftlich sehr lesbares ausgezeichnetes Werk über das Selbst- und Fremdbild des Nationalsozialismus. Ein Bild, das eine obsessive Rassenideologie aufzeigt. Ein Bild mit dem Mythos des höherwertigen Ariers, zu dem selbst Jesus Christus gemacht wird. Ein Bild, das die deutsche Rasse in einer unverschuldeten existentiellen Notlage sieht. Ein Bild, bei dem der Einzelne in die Verantwortung genommen wird, die arische Rasse für die nächsten Generationen zu vervollkommnen. Aus der Perspektive dieser naturgesetzten zwangsnotwendigen Rassenhygiene wird das hemmungslose Morden moralisch legitimiert und als alternativlos gesetzt. „Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk und den Soldaten an der Front“, sagt Hitler.
Die Lebensraumdoktrin gepaart mit einem biologischen Antisemitismus entwickelt sich zur dynamisch-legitimierten Radikale gegen die sogenannte kulturelle Verjudung.
Der Jude ist in „Opposition zur Kultur, …, die also mit der Natur verbunden bleibt, schafft der Jude ein künstliches Gebilde wie die Stadt, die den Menschen von der Erde trennt, ihn entwurzelt: Der ‚Asphaltjude‘ produziert den ‚Asphaltmenschen‘.“
Die Täter sehen sich als nichtschuldig an, da das Töten als naturgegebene Notwendigkeit zur Erhaltung ihrer eigenen Rasse gesehen wird.
Johann Chapoutot schreibt in seinen Schlussbemerkungen "An die Stelle des Gewissens tritt die Konsequenz", indem der Diskurs in aktives Handeln umgesetzt wird.
Johann Chapoutot:
Das Gesetz des Blutes.
Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg.
Aus dem Franz. von Walther Fekl
Darmstadt 2016
Zabern Verlag, Imprint der WBG Darmstadt
476 S. mit 1 s/w Abb., Bibliogr. und Reg. geb.
49,49 EUR
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