Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 297

Januar 2020

Das alte COMPASS-Jahr 2019 endete mit einem ONLINE-EXTRA-Beitrag des schweizer Jesuiten Christian Rutishauser, einem der herausragendsten Theologen im christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart, in dem es um eine christlich-theologische Sicht auf das Land Israel ging (siehe Online-Extra Nr. 296) - und das aktuelle Jahr 2020 startet erneut mit einem Beitrag von Rutishauser, der relativ kurz, aber instruktiv einige "Meilensteine im christlich-jüdischen Dialog" beleuchtet. Er tut dies im Blick auf den Themenschwerpunkt der jüngsten Ausgabe der empfehlenswerten Zeitschrift "Bibel und Kirche" (4/2019), die der "christlichen und jüdischen Schriftauslegung" gewidmet und welcher der vorliegende Beitrag von Rutishauser entnommen ist. (Zur Zeitschrift siehe auch den Hinweis weiter unten).

Der christlich-jüdische Dialog hat in den vergangenen Jahrzehnten Kernfragen christlicher Theologie und Bibelhermeneutik in vielerlei Hinsicht auf eine neue Grundlage gestellt. So führt beispielsweise die Anerkennung der bleibenden Erwählung des Judentums als Gottes Volk auch dazu, biblische Texte in ihrer Uneindeutigkeit und Vielstimmigkeit neu zu lesen und dabei insbesondere Anregungen aus der jüdischen Schriftauslegung aufzunehmen. Auf vielen Ebenen wird deutlich, dass die zunehmend freundschaftliche Begegnung von Judentum und Christentum den Blick für unterschiedliche, gleichermaßen legitime Interpretationen des Alten Testaments, der hebräischen Bibel, öffnet und die christliche Bibelauslegung verändert hat. Vor diesem Hintergrund beschreibt Rutishauser in nachfolgendem Beitrag den dafür relevanten Ertrag der letzten fünfzig Jahre im christlich-jüdischen Dialog, wirft einen Blick auf das veränderte Bibelverständnis, geht auf jüdische Reaktionen und Kritik ein und schließt mit Bemerkungen zu den jüngsten Beiträgen seitens der jüdischen Orthodoxie.

COMPASS dankt der Redaktion von "Bibel und Kirche" herzlichst für die Genehmigung der Wiedergabe des Beitrages von Christian Rutishauser, der heute als ONLINE-EXTRA Nr. 297 erscheint: "Meilensteine des christlich-jüdischen Dialogs".

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Online-Extra Nr. 297


Meilensteine des christlich-jüdischen Dialogs

CHRISTIAN M. RUTISHAUSER SJ


Die Dialogtexte aus christlicher Sicht sind in den letzten Jahren durch wichtige Stellungnahmen aus jüdischer Perspektive ergänzt worden. Welche theologischen Früchte haben diese Dokumente getragen? Wie verändert der Dialog die christliche Lektüre der jüdischen Bibel – und des Neuen Testaments?

Es gibt die Revolution von oben. Als die Bischöfe am 28. Oktober 1965 mit 2.221 Ja-Stimmen gegen 88 Nein-Stimmen die Erklärung Nostra aetate (NA) über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen verabschiedeten, war dies ein revolutionärer Akt. Das Konzil anerkannte zum ersten Mal in der Geschichte, dass fremde Religionen positive Wahrheiten enthalten, auch wenn sie unvollkommene Wege zu Gott sind. Und auf das Judentum stößt das Konzil beim Nachdenken über das, was Kirche ausmacht. Die Kirche ist mit dem Judentum innerlich verbunden und geistlich verwandt (NA 4). Die Tradition hatte bis dahin nur von Heiden im negativen Sinne gesprochen; Juden waren mit einer »Lehre der Verachtung« (Jules Isaac) abgestraft worden. Nostra aetate aber vollzieht eine 180-Grad- Wende. Versteht sich die Kirche als Volk Gottes, steht sie neben dem Judentum als Gottes Volk. So kann Johannes Paul II. 1986 in der Synagoge von Rom sagen: »Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas »Äußerliches«, sondern gehört in gewisser Weise zum »Inneren« unserer Religion.«1 Das Christentum hat eine einzigartige Beziehung zum Judentum. Im Vatikan wurden die Beziehungen zum Judentum nach dem Konzil denn auch nicht dem Sekretariat für den interreligiösen Dialog zugeordnet. Sie gehören vielmehr zum Sekretariat für die Einheit der Christen, ohne dass es bei den Juden um Ökumene ginge. Das Konzil griff bei der erneuerten Sicht auf das Judentum auf die Vorarbeiten von Seelisberg zurück. 1947 trafen sich in diesem kleinen Schweizer Bergdorf Vertreter verschiedener Kirchen und Politiker sowie jüdische und nicht-jüdische Intellektuelle in einer Konferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus. Die gut siebzig Personen arbeiteten in fünf Kommissionen zu den Themenbereichen Flüchtlinge, Erziehung, Medien, Politik und Kirche. Unter anderem verabschiedeten sie ein Statement, das als »Die 10 Punkte von Seelisberg« berühmt werden sollte. Nur zwei Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus betonen sie explizit, dass Jesus, Maria und die Jünger alle Juden waren. Der Gott des AT und des NT sei derselbe. Auch das Liebesgebot sei ebenso jüdisch wie christlich. Und sie ermahnen die Christen, die Passionsgeschichte Jesu so zu erzählen, dass dabei nicht Judenhass gefördert werde. Nostra aetate hat den Inhalt der 10 Punkte von Seelisberg fast gänzlich übernommen und sich von jeglicher Judenverachtung distanziert.

Früchte aus 50 Jahren Dialog

Das Konzil hat nicht nur eine positive Beziehung zum Judentum aufgenommen. Es erklärt darüber hinaus, dass diese Beziehung für den christlichen Glauben unerlässlich ist. Ein Christ, der seine Bibel verstehen will, muss das Judentum verstehen. Er teilt mit Juden die hebräische Bibel. Auch die Schriften des NT sind jüdisch, nämlich jüdisch-messianisch. Erst die Zusammenstellung dieser Schriften als NT im 2. Jh. n. Chr. ist ein Akt, der das Christentum konstituiert. In der Einheit der zweigeteilten christlichen Bibel spiegelt sich das Verhältnis von Judentum und Christentum: So sind die Unterschiede eingebettet in die größere Einheit der gemeinsamen Erwählung und Berufung. Drei kirchliche Dokumente legen die jüdisch-christliche Beziehung und die entsprechende Lesart der Bibel sehr gut dar:


– Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche (1985): Sie betonen, dass das Judentum in seinem Selbstverständnis wahrgenommen werden muss und dass kein Antijudaismus ins NT hineingelesen werden darf.

– Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (2001): Der Text wendet sich ganz der Bibel zu. Einerseits wird das Verhältnis von AT und NT ausführlich besprochen. Anderseits geht es darum, wie die Juden im NT dargestellt werden und zu verstehen sind. Überhaupt zeigt die päpstliche Bibelkommission, wie das Christusereignis und die Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. nicht nur das spätere Judentum, sondern auch das Christentum geprägt haben.

– Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29) (2015): Die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum stellt das Verhältnis von Judentum und Christentum systematisch dar. Sie schaut den universalen Heilsanspruch in Jesus Christus mit der Erwählung Israels zusammen.


BIBEL UND KIRCHE
Das aktuelle Heft





Heft Nr. 4 - 2019
Christliche und jüdische Schriftauslegung



64 Seiten // Euro 7,90»

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Bibel und Kirche 4/2019

Das vollständige Inhaltsverzeichnis dieses Heftes können Sie hier einsehen:
Inhalt




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In den drei Dokumenten wird betont, dass das Judentum im »nie gekündigten Bund« mit Gott steht. Die Kirche ist in ihrer Erwählung nicht an die Stelle des Judentums getreten. Die Juden sind nicht verworfen. Die sogenannte Substitutionslehre wird abgelehnt. Der alte Bund dauert fort und ist nicht durch den neuen ersetzt worden. So wie die Christen mit dem NT und der kirchlichen Tradition das biblische Erbe weiterführen, so sind auch die jüdische Bibelexegese und die mündliche Tradition im Judentum eine legitime Auslegung. Die Christen könnten daraus viel lernen. Papst Franziskus wird in Evangelii gaudium diesbezüglich von Komplementarität sprechen (Nr. 249). Es wird in allen drei Texten auch betont, das Judentum stelle nicht einen parallelen Heilsweg zum Christentum dar. Gerade das jüngste Dokument präzisiert, dass Jesus Christus einen universalen Heilsanspruch hat, dass aber Evangelisierung im klassischen Sinne nur jenen Völkern gilt, die noch nicht zum Gott der Bibel gefunden haben. Die katholische Kirche kennt »keine spezifische institutionelle Missionsarbeit« unter den Juden, heißt es im Text (2015, Nr. 40). Christen müssten ihren Glauben aber auch vor Juden bezeugen. Die Kirche bestehe wesentlich aus einer »Kirche aus den Heiden« und aus einer »Kirche aus den Juden« (2015, Nr. 43). Was Christus, der alle Menschen zu Gott führen will, für Juden bedeutet, die bereits bei diesem Gott sind, wird debattiert. Dabei hat eine Formel, wenn auch unterschiedlich gedeutet, Konsens gefunden: Mission gegenüber Juden nein, Dialog mit ihnen ja.


Die eine, zweigliedrige Bibel

Angrenzung und Abgrenzung, Gemeinschaft und Ungemeinschaft, Kontinuität und Diskontinuität sind für das jüdisch-christliche Verhältnis kennzeichnend. Es spiegelt sich im Verhältnis von AT und NT. Dieses ist komplexer als die eingängigen Formeln von Verheißung und Erfüllung, unvollkommenes Vorbild und vollkommene Darstellung, Gesetz und Gnade suggerieren. Jesu Anhänger haben vom AT her das Christusereignis und die Tempelzerstörung gedeutet. Das AT war Referenzpunkt und nur in ihm kann Jesus erkannt werden, betont das Dokument der Bibelkommission (2001, Nr. 7). Erst später wurde das AT vom NT her gelesen, also das NT zum Referenzpunkt gemacht. Die einfachen Formeln müssen vertieft werden, weil das AT nicht vorausgesagt hat. Das Christusereignis ist im AT nicht explizit angekündigt. »So darf man nicht sagen, der Jude sehe nicht, was in den Texten angekündigt worden sei. Vielmehr gilt, dass der Christ im Lichte und Geiste Christi in den Texten einen Sinnüberschuss entdeckt, der in ihnen verborgen lag« (2001, Nr. 21). Das AT muss auch für sich stehend gelesen werden. Dann zeigt die Bibelkommission, wie die Juden in jeder einzelnen Schrift des NT dargestellt werden. Die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Pharisäern bzw. Juden spiegeln manchmal innerjüdische Streitigkeiten zur Zeit Jesu, manchmal aber auch Auseinandersetzungen zur Zeit der Abfassung der Evangelien. Dass auch Paulus bis ans Lebensende ein messianisch denkender Jude geblieben ist, muss ebenfalls festgehalten werden.

Auch die Kirchen der Reformation setzten Meilensteine zur Erneuerung der Beziehung mit den Juden, wobei der Synodenbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland anno 1980 besondere Signalwirkung hatte. In Deutschland wurde die jährlich wiederkehrende »Woche der Brüderlichkeit« eingeführt, Gesellschaften für jüdischchristliche Zusammenarbeit wurden tätig und gemeinsame Lernwochen erhielten Ausstrahlungskraft.2 Im Vorfeld der Feierlichkeiten zu 500 Jahren Reformation 2017 setzte sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nochmals intensiv mit Luther auseinander. Als junger Reformer umwarb er die Juden, weil er ihre Ablehnung der röm.-kath. Kirche verstand. Doch entbrannte in ihm der Hass gegen sie, als sie sich nicht zu seiner erneuerten Kirche bekehren wollten. Ihre Bekehrung wäre für ihn ein Beweis der geglückten Reformation gewesen. Die EKD distanzierte sich nicht nur von Luthers Judenhass, sondern auch von den Deutschen Christen, die ihren Antijudaismus im 20. Jh. mit Luther begründeten. Sie reformulierten ihre erneuerte, positive Sicht des Judentums.3


Jüdische Reaktionen und neue Auseinandersetzungen

Viele Juden haben skeptisch abwartend auf Nostra aetate reagiert. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Text kann leicht in der Schublade bleiben. Auch wenn Rabbiner wie Abraham Jehoshua Heschel den Dialog mit der Kirche gesucht haben, so hat Rabbiner Joseph Dov Soloveitchik, die orthodoxe Autorität in den USA, 1964 mit dem Aufsatz »Konfrontation« vom theologischen Dialog mit der Kirche abgeraten.4 Nur in gesellschaftlichen Fragen solle man zusammenarbeiten. Folglich sind jüdisch-orthodoxe Kreise im 20. Jh. kaum in den Dialog eingetreten. Viele Juden waren überhaupt froh, von Christen nicht weiter belästigt zu werden. Viele sind auch säkular und an religiösen Fragen nicht interessiert. Trotzdem begann nach dem Konzil ein Dialog, vor allem mit liberalen und konservativen Jüdinnen und Juden. Theologisches Interesse oder schlicht die Einsicht, auf diese Weise neuem Antijudaismus zuvorzukommen, waren ihre Motivation.

Die ernsthaften christlichen Bemühungen zum Dialog wurden von vielen Juden aber wahrgenommen. Vor allem in der Anerkennung des Staates Israel 1991, im vatikanischen Dokument zur Schoah »Wir erinnern« (1999) und im Besuch von Johannes Paul II. in Israel im Jahr 2000 sahen viele Juden Beweise für die Umkehr der röm.-kath. Kirche. Vier jüdische Gelehrte veröffentlichten noch im September 2000 in der New York Times ein Acht-Punkte-Statement mit dem Titel »Dabru emet«, übersetzt »Redet Wahrheit«. Sie forderten ihre jüdischen Brüder und Schwestern auf, die Umkehr der katholischen und vieler reformatorischer Kirchen anzuerkennen. »Dabru emet« formuliert, Juden und Christen verehrten den gleichen Gott, teilten dieselbe Bibel und hätten gemeinsame ethische Prinzipien. Ferner würden die Christen den jüdischen Anspruch auf das Land Israel anerkennen und auf Mission verzichten. Die Erklärung löste in jüdischen Kreisen heftige Debatten aus. Steht der jüdische Monotheismus nicht gegen den Trinitätsglauben?! Sind die Bibeln nicht doch sehr anders?! Verzichten die Christen wirklich auf Judenmission?! »Dabru emet« wurde zwar von zahlreichen liberalen und konservativen jüdischen Gelehrten unterzeichnet, im Ganzen aber auf christlicher Seite positiver aufgenommen als auf jüdischer. In den USA folgten wichtige christliche Erklärungen: »Eine heilige Verpflichtung« (2002) und »Überlegungen zu Bund und Mission« (2002). In Deutschland wurde erst 2009 eine ähnliche Debatte geführt, als Papst Benedikt die Karfreitagsfürbitte für die Juden im wieder zugelassenen tridentinischen Ritus neu formulierte. Der Gesprächskreis von Juden und Christen beim Zentralrat der Katholiken veröffentlichte das Papier »Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen«.



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Repräsentative Beiträge der jüdischen Orthodoxie

Bedeutende jüdische Dialogbeiträge folgten im Jahr 2015, als zum 50-Jahr-Jubiläum von Nostra aetate das erwähnte Dokument »Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« veröffentlicht wurde. Nun sah sich eine orthodoxe Rabbinergruppe veranlasst, vertieft in den Dialog einzusteigen. Von einem jüdisch-christlichen Treffen in Galiläa motiviert, wurde eine kurze Erklärung mit dem Titel »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun« verfasst. 2017 folgte ein etwas längeres Dokument »Zwischen Jerusalem und Rom«, unterzeichnet von der Europäischen Rabbinerkonferenz, dem Rabbinical Council of America und dem Oberrabbinat von Israel. Beide Texte anerkennen das Bemühen der Kirchen, das Judentum neu zu sehen, und ihre Umkehr seit der Schoah. Die Rabbiner wollen daher mit den Christen als Partner für ethische Werte in der globalisierten Welt zusammenarbeiten. Die Erklärung »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun« sieht das Christentum sogar als Teil des göttlichen Vorsehungsplans für die Geschichte. Sie beurteilt das Christentum aus der jüdischen Tradition heraus positiv. Die Rabbinerkonferenzen hingegen sind in ihrem Dokument zurückhaltender. Sie unterstreichen die theologischen Differenzen und deuten das Christentum nicht. Sie vermeiden es, Gemeinsamkeiten aufzuzählen, wie dies Dabru emet getan hatte. Geteilt werden ethische Werte und der Auftrag, sie in dieser Welt zu verbreiten. In beiden Texten sprechen die Juden auch nicht von Geschwisterlichkeit. Partnerschaft ist für sie möglich, immer unter der Voraussetzung, dass die Kirchen auf Judenmission verzichten.

Gut 50 Jahre nach »Nostra Aetate« ist der Dialog im Zentrum theologischer Diskussionen und christlicher wie jüdischer Verantwortungsträger angekommen. Erstmals nach fast 2000 Jahren wird es damit möglich, die eigene Identität nicht nur in Abgrenzung, sondern auch im konstruktiven Gespräch mit dem jeweils Anderen zu beschreiben.



ANMERKUNGEN



1   Alle offiziellen Dokumente der röm.-kath. und evangelischen Kirchen sind zusammengestellt in: Die Kirchen und das Judentum, Bd. 1: Dokumente von 1945 bis 1985, Bd. 2: Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn 1988/2001, herausgegeben von Rolf Rendtorff, Hans Hermann Henrix et al.; ab 2000: https://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/kirchliche-dokumente.
2   Edith Petschnigg, Biblische Freundschaft. Jüdisch-christliche Basisinitiativen in Deutschland und Österreich nach 1945, Leipzig 2018.
3   https://www.ekd.de/synode2015_bremen/beschluesse/s15_04_iv_7_ kundgebung_martin_luther_und_die_juden.html.
4   Veröffentlicht in: Tradition Vol. 6/Nr. 2 (1964), 5–28.



Der Autor

Dr. CHRISTIAN M. RUTISHAUSER SJ

Jhg. 1965, ist Provinzial der Jesuiten in der Schweiz, Theologe und Judaist, Lehrbeauftragter für jüdische Studien an der Hochschule für Philosophie in München und Berater des Vatikan sowie der schweizerischen und deutschen Bischofskonferenzen zu Fragen der christlich-jüdischen Beziehung.
   


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