Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 351

Juli 2024

"Ich sehe was, was Du nicht siehst. Deutschland. Israel. Einblicke." So der Titel eines kürzlich von Teresa Schäfer und Alexandra Nocke herausgegegebenen und von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus publizierten Buches. Ein Buch, das genau zur richtigen Zeit kommt. Ein klug komponiertes, sorgsam editiertes und mit eindrucksvollen Fotos versehenes Buch, das voller persönlicher, mitunter humorvoller, aber auch sorgenvoller und bedrückender Zeugnisse dieser Zeit ist. Es ist ein seltener Glücksfall, dem man die Leidenschaft für das Thema sowie die Professionalität in der Sache anmerkt.

Worum geht es in dem Buch?

Schäfer und Nocke haben zwischen 2017 und 2024 35 Menschen aus dem öffentlichen Leben zu ihren Perspektiven auf Israel und Deutschland befragt. Politiker*innen, Diplomaten, bildende wie darstellende Künstler*innen, Deutsche wie Israelis, die alle bereit waren, auf zwei Fragen ihre je ganz eigenen Antworten zu geben:
"Woran denkst Du, wenn Du an Israel denkst? Woran denkst Du, wenn Du an Deutschland denkst?"
Zu den 35, die sich diesen Fragen stellten, gehören u.a. Uri Avnery, Gabriel Bach, Micha Bar-Am, Lizzie Doron, Tomer Gardi, Uri Geller, Katrin Göring-Eckardt, Alexander Graf Lambsdorff, Günther Jauch, Kevin Kühnert, Igor Levit, Petra Pau, Idan Raichel, Marcel Reif, Ben Salomo, Richard C. Schneider, Natan Sharansky, Shimon Stein, Günter Wallraff.

In einem lesenswerten Vorwort, das die programmatische Überschrift "Jenseits von Schwarz-Weiß" trägt, schildern die Herausgeberinnen ihre Beweggründe für das Buch, ihre Erfahrungen während der Arbeit an dem Buch und erläutern ihr Konzept. Zur Auswahl der Befragten beispielsweise schreiben sie:
"Wir wollten mit Menschen sprechen, die Israel und Deutschland aus eigenem Erleben kennen, die in der Öffentlichkeit stehen, unterschiedliche Perspektiven mitbringen und mehrheitlich nicht als »Expert:innen für die deutsch-israelischen Beziehungen« bekannt sind.
Wir wollten zeigen, dass gelebte Beziehungen zwischen Israel und Deutschland nicht in eine eng geschnürte Kategorie passen, sondern getragen werden von Menschen. Menschen, die jung oder alt sind, die sich politisch konservativ, progressiv oder »weder–noch« verorten, die verschiedene religiöse Zugehörigkeiten haben und die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen mitbringen.
"

COMPASS freut sich, Ihnen nachfolgend das einleitende Kapitel der beiden Herausgeberinnen Teresa Schäfer und Alexandra Nocke sowie drei weitere Leseproben - die Antworten von Julia Fermentto Tzaisler, Alma Sadé und Marcel Reif - aus dem Buch zu präsentieren. Und  keinesfalls darf unerwähnt bleiben, dass dieses Buch völlig kostenfrei zu beziehen ist! Näheres dazu in der Anzeige weiter unten.

COMPASS dankt den Herausgeberinnen herzlich für die Genehmigung zur Wiedergabe der nachfolgenden Texte.

© 2024 Copyright bei den Herausgeberinnen
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 351


Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Deutschland. Israel. Einblicke.


ALEXANDRA NOCKE & TERESA SCHÄFER


Jenseits von Schwarz-Weiß

»Meine Beziehungen zu Deutschland sind immer etwas komisch. So viele Sachen in Deutschland erinnern mich. Es ist nicht ganz Ausland, aber doch vollkommen Ausland.« So begann der Friedensaktivist Uri Avnery (1923–2018), der als Helmut Ostermann in Beckum bei Hannover geboren wurde, ein Gespräch, das wir für das Ausstellungsprojekt »Israelis & Deutsche« im Jahr 2015 mit ihm geführt haben. Sein Zitat zeugt von Distanz und Nähe zugleich und verdeutlicht eine Widersprüchlichkeit, die viele unserer Gesprächspartner:innen für dieses Buch in ihren Verbindungen zu Deutschland und Israel erleben und beschreiben. Auch Kevin Kühnert spricht dies in seinem Interview mit uns an: »Ich wünsche mir sehnlichst, dass Israel eine Zukunft hat, in der mehr Gäste aus aller Welt dieses pulsierende Land voller kreativer Widersprüche aus einer solchen Perspektive kennenlernen können.«

Über die Verbindungen zwischen Deutschland und Israel wird viel gestritten, geschrieben und meinungsstark diskutiert. Der Diskurs ist häufig von Härte und festgefahrenen Positionen geprägt und gleitet in bekannte Klischees und Stereotype ab. Unser Buch will verengte Sichtweisen aufbrechen, Widersprüchen Raum geben und die vielfältigen Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen von einer neuen und sehr persönlichen Seite beleuchten: Sie werden getragen von den verschiedensten Stimmen und sind immer eingebettet in den Kontext ihrer Zeit. Dementsprechend sind sie manchmal skeptisch oder sogar misstrauisch, sehnsüchtig, unsicher, kompliziert – oder auch überraschend, herzlich und voller Neugier.

Dieses Buch ist zwischen 2017 und 2024 entstanden, und der Weg zur Publikation war holprig. Es entwickelte sich parallel zu gesellschaftlichen und politischen Ereignissen von existenzieller Tragweite in beiden Ländern. In Israel reihen sich kriegerische Auseinandersetzungen, fünf Parlamentswahlen, seit Anfang 2023 landesweite Proteste gegen die sogenannte Justizreform der rechts-religiösen Regierung Benjamin Netanjahus und der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit dem darauffolgenden (und bis zum Redaktionsschluss des Buches andauernden) Krieg aneinander.

In Deutschland zog 2017 die AfD in den deutschen Bundestag ein, 2019 verübte ein Rechtextremist an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, einen Anschlag auf die Jüdische Gemeinde und die Synagoge in Halle und tötete zwei Menschen. Im selben Jahr ermordete ein Neonazi Walter Lübcke, CDU-Landtagsabgeordneter in Hessen und Regierungspräsident in Kassel. Ein Rechtsterrorist erschoss 2020 in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven.

Für Gesamt-Europa war diese Zeit vor allem gezeichnet vom Brexit im Jahr 2020 und dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022. Bundeskanzler Olaf Scholz prägte in diesem Zusammenhang das Wort »Zeitenwende« und verdeutlicht damit die Tragweite der Ereignisse. Zusätzlich fiel die Corona- Pandemie in den Entstehungszeitraum dieses Buches, in der das gesellschaftliche Leben in beiden Ländern, wie auf der ganzen Welt, zum Erliegen kam.

Wir haben an unserem ursprünglichen Vorhaben festgehalten. Das Buch und sein Konzept wuchsen mit den Gesprächen, die wir über die Jahre – allen Widrigkeiten zum Trotz – führen konnten. Mit den einzelnen Interviews fügte sich nach und nach das Bild eines komplexen Beziehungsgeflechtes mit vielen Schnittmengen und Wechselwirkungen zusammen. Auch wenn diese Gespräche-Sammlung keine Tagesaktualität beansprucht, so spiegeln sich die weltpolitischen Ereignisse direkt und indirekt in den Texten unserer Interviewpartner:innen. Wir sind dankbar, dass nach der Zwangspause durch die Corona-Pandemie unser Vorhaben wieder an Fahrt aufnahm, als die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e. V. entschied, der Veröffentlichung institutionell einen Rahmen zu geben. Für den kreativen und wertvollen Austausch mit den Kolleg:innen der KIgA e. V. auf dem Weg zur Publikation, insbesondere mit Dervis Hizarci, danken wir sehr herzlich.

Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 stellte eine Zäsur dar, die das Leben der meisten unserer Protagonist:innen in einen Ausnahmezustand versetzte. Die Autorin und Aktivistin Lizzie Doron beschreibt das in einem Gespräch mit uns so: »Im Moment bin ich wie ein Mensch ohne Haut. Es tut körperlich weh und ist so beängstigend.« Auch die Musikerin Alma Sadé beschreibt, wie die aktuelle Situation sie ganz unmittelbar berührt: »Der 7. Oktober hat mich zu einer Ausländerin gemacht. Ich spüre einen existenziellen Bruch in mir, genau wie das Land Israel einen Bruch erlebt.«

Für manche unserer Gesprächspartner:innen hält dieser Ausnahmezustand bis zum heutigen Tag an. Lizzie Doron schreibt Trauerreden, die Literatin Julia Fermentto Tzaisler berichtet über die aktuelle Lage in der internationalen Presse, die Unternehmerin Jenny Havemann engagiert sich ehrenamtlich und geht auf Beerdigungen (unabhängig davon, ob sie die Personen kannte oder nicht), die Linke-Politikerin Petra Pau spricht auf Kundgebungen in Berlin, die Autorin Sarah Blau gibt vermehrt Interviews, und der Pianist Igor Levit reist zu Solidaritätskonzerten nach Israel.

Wir haben nach einem angemessenen Weg gesucht, mit dieser neuen Realität umzugehen und dem beschriebenen Bruch und dem großen Schmerz Raum zu geben. Deswegen haben einige unserer Interviewpartner:innen, die wir vor dem 7. Oktober gesprochen haben, ihren ursprünglichen Gedanken einen Nachtrag hinzugefügt, der eine direkte Reaktion auf dieses und die folgenden Ereignisse abbildet.

In den Gesprächen mit Micha Ullman wird deutlich, wie sich zeitliche Kontinuität und Aktualität in einem einzelnen Beitrag vereinen können: Im Jahr 2018 lud uns der Künstler in sein Atelier nach Ramat HaSharon ein, und wir waren umgeben von Skizzen, Bronze-Skulpturen und Mal-Utensilien, während er über seine Bilder Himmel, Luft und Erde sprach. Er reflektierte über sein Deutschland-Bild anhand seines Denkmals zur Erinnerung an die Bücherverbrennung (Leere Bibliothek, 1995) auf dem Berliner Bebelplatz. In einem Nachtrag bezieht sich Micha Ullman auf die Tatsache, dass dieser Ort nach dem 7. Oktober von der israelischen Community in Berlin als Gedenkort für die Geiseln und die Getöteten genutzt wurde und so eine zusätzliche Bedeutungsebene erfuhr. Auch brach die Realität des Krieges während eines Telefonats mit Richard C. Schneider ganz unmittelbar ein, als der Alarm auf seinem Mobiltelefon ununterbrochen vibrierte, um vor dem Beschuss Tel Avivs durch Raketen der Hamas aus Gaza zu warnen.

Aus den unterschiedlichen Texten, die nach dem 7. Oktober entstanden sind, wird deutlich, dass sich Israel an einem Wendepunkt befindet und die Zerrissenheit, die über die vergangenen Jahre gewachsen ist, scheinbar einen Höhepunkt erreicht hat. Schon vor dieser Zäsur hat Botschafter a.D. Shimon Stein analysiert: »Man kann sagen, dass Israel ein Projekt im Entstehen ist. Ein Projekt, bei dem wir ein paar grundsätzliche Fragen über unsere Zukunft noch nicht gelöst haben, was jetzt zum Vorschein kommt.« Das schon zuvor fragile Gefühl von Sicherheit wurde durch den Überfall weiter zerstört und von einem Zustand der Verunsicherung abgelöst.



Eine Publikation der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V.

Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Deutschland. Israel. Einblicke.


Herausgegeben von
Alexandra Nocke & Teresa Schäfer


35 Menschen. 2 Fragen. 70 Bilder.



KOSTENFREI bestellen:
Deutschland.Israel.Einblicke

Mit einem Grußwort des Vorstandsvorsitzenden der KIgA e. V., Dervis Hizarci.
Mit einem Vorwort und einem Nachtrag zum 7. Oktober 2023 von Meron Mendel.

Mit Beiträgen von:
    
Rana Abu Fraiha-Asyag, Viviane Andereggen, Uri Avnery, Gabriel Bach, Micha Bar-Am, Sarah Blau, Noam Brusilovsky, Dorothee Bär, Joe Chialo, Tehila Darmon, Lizzie Doron, Julia Fermentto Tzaisler, Tomer Gardi, Uri Geller, Katrin Göring-Eckardt, Alexander Graf Lambsdorff, Jenny Havemann, Günther Jauch, Kevin Kühnert, Igor Levit, Kais Nashif, Anja Reich-Osang, Petra Pau, Idan Raichel, Benyamin Reich, Marcel Reif, Yael Ronen, Alma Sadé, Ben Salomo, Richard C. Schneider, Sara von Schwarze, Natan Sharansky, Shimon Stein, Micha Ullman, Günter Wallraff.



Gesamtgesellschaftlich driftet die gegenseitige Wahrnehmung von Israelis und Deutschen seit mehreren Jahrzehnten immer weiter auseinander, wie regelmäßig durchgeführte Meinungsumfragen zeigen: Während Israelis Deutschland immer positiver sehen und in großer Zahl besuchen, verschlechtert sich der Blick der Deutschen auf Israel mit der Zeit immer weiter – und Reisen nach Israel bleiben eine Ausnahme. Die zunehmend ablehnende Haltung heizt auch die Debatten zu Israel in der deutschen Öffentlichkeit an, in denen es häufig an Differenzierungen fehlt.

Wenn von »den Beziehungen« zwischen Deutschland und Israel die Rede ist, wird es schnell staatstragend – oder schwarz-weiß. Dann geht es um »pro« und »anti«, um Täter und Opfer, um politische Positionierungen und Stellung nahmen, die häufig nach Worthülsen klingen. Das hat jedoch wenig mit den Lebenswelten von Israelis und Deutschen zu tun, die sich tatsächlich begegnen. Ihre Geschichten erzählen von Zwischenmenschlichem und Emotionen, persönlichen Verbindungen und gemeinsamem Erleben.

Genau diese menschlichen Beziehungen interessieren uns. Wir wollen das Konstrukt »Deutsch-Israelische Beziehungen « mit Leben füllen. Deswegen überlassen wir – über vermeintlich Trennendes hinweg – unseren 35 Protagonist: innen die Bühne. Dabei geht es uns nicht darum, Meinungen abzufragen, sondern vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven Raum zu geben.

Wir haben all unseren Gesprächspartner:innen zwei Fragen gestellt: Woran denkst Du, wenn Du an Israel denkst? Woran denkst Du, wenn Du an Deutschland denkst?

Tauchen bei diesen Worten vor Deinem inneren Auge Bilder auf? Sind diese Bilder abstrakt oder konkret? Geht es um bestimmte Orte, Gegenstände, Gerüche, Geräusche oder Personen? Denkst Du an Situationen oder Eindrücke? Es stand allen Interviewpartner:innen frei, diese Fragen so persönlich, kreativ, politisch oder unpolitisch zu beantworten, wie sie wollten.

Bevor wir Personen für ein Interview angefragt haben, haben wir für uns Voraussetzungen festgelegt, die all unsere Gesprächspartner:innen erfüllen sollten: Wir wollten mit Menschen sprechen, die Israel und Deutschland aus eigenem Erleben kennen, die in der Öffentlichkeit stehen, unterschiedliche Perspektiven mitbringen und mehrheitlich nicht als »Expert:innen für die deutsch-israelischen Beziehungen« bekannt sind.

Wir wollten zeigen, dass gelebte Beziehungen zwischen Israel und Deutschland nicht in eine eng geschnürte Kategorie passen, sondern getragen werden von Menschen. Menschen, die jung oder alt sind, die sich politisch konservativ, progressiv oder »weder–noch« verorten, die verschiedene religiöse Zugehörigkeiten haben und die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen mitbringen.

Unsere Vorstellungen und Wünsche waren jedoch nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stand die Frage, wer einem Gespräch mit uns überhaupt zustimmen würde. Hier zeigte sich früh eine klare Tendenz: Die angefragten Israelis antworteten in der Regel schnell, unkompliziert und persönlich, um ein Treffen für das Gespräch zu vereinbaren. Absagen stellten eine Ausnahme dar.

Wenn wir Menschen aus Deutschland anfragten, war es genau umgekehrt: Zusagen waren die Ausnahme. In der Regel erhielten wir über ein Sekretariat, Büro oder Management eine Absage, keine Antwort oder – im besten Fall – viele Rückfragen.

Mit jeder Zu- oder Absage überlegten wir neu, wen wir als nächstes anschreiben sollten, immer mit dem Ziel vor Augen, eine möglichst »diverse«1 Gruppe abzubilden. Insgesamt haben wir etwa 80 Personen angefragt, von denen sich 35 zu einem Interview bereit erklärten.

Dabei war es von unserem ersten bis zum letzten Gespräch deutlich unkomplizierter, Interviews mit Israelis zu vereinbaren – mit einer Einschränkung: Von zwei Ausnahmen abgesehen hat kein arabischer Israeli bzw. Palästinenser:in, die in Israel lebt, einem Gespräch mit uns zugestimmt. Unter den Interviewpartner:innen aus Deutschland befindet sich trotz zahlreicher Anfragen ebenso weder ein:e muslimisch gelesene:r Deutsche:r oder Deutsche:r mit arabischer oder palästinensischer Migrationsgeschichte.

Diese Leerstelle hat uns sehr beschäftigt, und wir haben lange versucht, sie zu schließen. Dass es uns nicht gelungen ist, ist vielleicht aber auch schlicht eine ehrliche Zustandsbeschreibung des »deutsch-israelischen Projekts«. Wir gehen davon aus, dass die Sorge, die wir den zögerlichen Zusagen aus Deutschland entnommen haben (Sorge, in ein Fettnäpfchen zu treten, etwas »Falsches« zu sagen, neben den »falschen« Personen zwischen zwei Buchdeckeln zu landen), für arabische Israelis oder Deutsche mit Migrationsgeschichte noch präsenter sein könnte.

Unsere Interviewpartner:innen waren bei unseren Gesprächen zwischen Ende 20 und Mitte 90 Jahre alt. Viele haben Deutsch mit uns gesprochen, auch wenn es nicht ihre Mutteroder Alltagssprache ist, sondern eine Sprache, die sie erst später im Leben oder in einigen Fällen nur in ihrer frühen Kindheit gelernt haben, bevor sie Deutschland verlassen mussten. Zwei unserer Gesprächspartner sind in der Zwischenzeit leider verstorben, und wir sind sehr froh, dass wir noch die Möglichkeit hatten, mit ihnen zu sprechen: Der Friedensaktivist und ehemalige Politiker Uri Avnery (1923–2018) und der Jurist Gabriel Bach (1927–2022), der einer der Ankläger im Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann war.

Wir haben mit Künstler:innen, Diplomat:innen, Autor:innen, Musiker:innen, Politiker:innen, Schauspieler:innen, Regisseur:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen, einem Juristen und einem Mentalisten gesprochen. Unsere Gesprächspartner: innen vertreten teils konträre politische Meinungen, haben verschiedene Zugänge zu unseren Fragen gewählt und uns – auch emotional – auf sehr unterschiedliche Reisen mitgenommen.

Wenn wir von »Israelis« und »Deutschen« sprechen, handelt es sich nicht um eine klare Zuordnung, sondern eher um eine »weiche Kategorie«. Unsere Interviewpartner:innen verdeutlichen, dass Identitäten keine Einbahnstraßen sind, sondern durchaus mehrere parallele Zugehörigkeiten beinhalten können. Sie haben in vielen Fällen mehr als eine Staatsangehörigkeit, wechselnde Wohnorte, unterschiedliche Lebensmittelpunkte, sind in einem Land geboren, einem zweiten Land aufgewachsen und leben nun in einem dritten. Sie sprechen mehrere Sprachen. Würden wir vom aktuellen Wohnort ausgehen, hätten wir mit mehr »Deutschen« als »Israelis« gesprochen. Nehmen wir allerdings die bevorzugt genutzte Alltagssprache als Richtwert, hatten wir mehr hebräischsprachige Interviewpartner:innen als deutschsprachige. Und wenn wir all diese Aspekte zusammennehmen, wird deutlich, dass einfache Zuordnungen nicht allen Lebensrealitäten entsprechen.


1 Diversität meint in diesem Fall nicht die Diversität der israelischen und deutschen Gesellschaften insgesamt, sondern innerhalb der von uns festgelegten Parameter: Aus Deutschland haben nur etwa 7 Prozent der Bevölkerung jemals Israel besucht. Innerhalb dieser Minderheit haben wir Gesprächspartner:innen gesucht, die in der Öffentlichkeit stehen. Uns ist bewusst, dass diese Gruppe keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung Deutschlands darstellt. Aus Israel haben mehr Menschen (etwa 40 Prozent der Bevölkerung) Deutschland besucht. Aber auch hier verringert sich die Gruppe der möglichen Gesprächspartner: innen durch die Anforderung, Personen des öffentlichen Lebens zu befragen.


 



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Wenn wir also von »Israelis« und »Deutschen« sprechen, legen wir die Selbstverortung unserer Gesprächspartner:innen zugrunde. Und die ist – wie gerade beschrieben – nicht in Stein gemeißelt.

Die Interviewsituationen waren so unterschiedlich wie unsere Gesprächspartner:innen selbst. Aber genau wie bei den Reaktionen auf unsere Anfragen gab es auch hier eine Tendenz: Während die Gespräche mit unseren deutschen Interviewpartner:innen in der Regel in einem eher professionellen und manchmal distanzierten Umfeld stattfanden – einem Büro, einer Hotellobby oder eventuell einem Restaurant, das für alle Beteiligten gut zu erreichen war –, schlugen unsere israelischen Gesprächspartner:innen mehrheitlich ein eher privates Umfeld vor – das eigene Wohnzimmer, das Lieblingscafé oder abends eine Bar (inklusive Whiskey). Das Umfeld wurde zum Teil unseres Gespräches. Wir waren umgeben von Haustieren, Partner:innen, verbogenen Löffeln, Autoreparaturen, zu pflegenden Angehörigen oder künstlerischen Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Sand.

Mit Beginn der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Reisebeschränkungen verlagerten sich einige unserer Gespräche in den digitalen Raum und in manchen Fällen ans Telefon. Einige unserer Interviewpartner:innen hatten sich im Vorfeld sehr genau auf unsere zwei Fragen vorbereitet, gaben ihre Antworten, und wir waren schnell mit dem Interview fertig (Rekord: 10 Minuten). Andere saßen mehrere Stunden mit uns zusammen und nahmen uns auf eine ausführliche Gedankenreise durch Assoziationsketten mit.

Interessanterweise gingen mehrere unserer Gesprächspartner: innen zunächst davon aus, dass wir sie nur zum jeweils »anderen« Land befragen wollten. Und während die Antwort darauf den meisten recht leichtfiel, taten sich viele mit dem »eigenen« Land deutlich schwerer.

In einigen hallte unser Gespräch offensichtlich lange nach. Sie meldeten sich Tage oder zum Teil noch Wochen später mit weiteren Gedanken, Ergänzungen oder Korrekturen.

Begleitet werden die einzelnen Zitate von Fotografien, die von unseren Gesprächspartner:innen zum großen Teil selbst für diese Publikation ausgewählt wurden. Wir haben vorab darum gebeten, keine klassischen Portraits zu schicken, sondern Fotos zu wählen, die in einem Zusammenhang zum gewählten Text stehen und ihm eine zusätzliche Dimension verleihen können. So fallen die »Bild-Portraits« – genau wie die Interviews selbst – je nach Person sehr unterschiedlich aus. Die hier versammelten Fotos und Texte sind Momentaufnahmen – mal sind es persönliche Zugänge, mal politische Positionen. Mal sind sie unvereinbar, mal bewegend und emotional. Was alle Antworten auf unsere zwei Fragen eint: sie wären wahrscheinlich anders ausgefallen, hätten wir unsere Gespräche an einem anderen Tag geführt.

Wehmut spricht aus den Texten, die Kulinarisches ins Zentrum stellen: da geht es um Streuselkuchen, Schnitzel mit Kartoffeln und Maiskolben. Es geht um Geschmäcker und Gerüche, die Kindheitserinnerungen wachrufen. Entfremdung und Distanz sprechen aus den Passagen, die schlechtes Wetter, das Grau und zugezogene Gardinen thematisieren, und in den Texten, die Landschaften und Orte beschreiben, wie den Rhein, die Wüste, den Wald oder Berlin-Marzahn, zeigt sich die Verbundenheit mit Heimat.

Einzelne Texte handeln von Identität, Engagement, Entwurzelung und Ernüchterung. Sie polarisieren und verbinden, rufen Erinnerungen wach, erzählen Familiengeschichten und zeigen die Vielfalt der deutsch-israelischen Erfahrungen.

Beziehungen sind vielschichtig und komplex. Sie verändern sich. Sie leben durch Nähe, Offenheit und Neugier genauso wie durch Auseinandersetzung, Reibung und Abgrenzung. Sie können widersprüchlich und herzlich zugleich sein. Beziehungen entstehen nicht durch Debatten und Analysen, sondern durch Menschen. Menschen, die ihre ganz eigenen Erfahrungen und Perspektiven einbringen, die ihre Meinungen ändern, die sich in einigen Fragen komplett uneins sind. Und die – in diesem Fall – alle Teil der gelebten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind. Diese Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Perspektiven kann anstrengend und fordernd sein. Sie ist aber vor allem eins: menschlich. Diese Gleichzeitigkeit macht es unmöglich, die Beziehungen zwischen unseren Ländern in Schubladen zu packen. Oder um es mit Marcel Reif zu sagen: »Ich kann nicht eine einzelne Sache rausgreifen, ein Bild. Das ist Pollock. Und jeder Klecks ist wichtig, ich kann nicht einen raussuchen, weil Sie ein Bild brauchen.«

Wir sind sehr dankbar für die Zeit und Offenheit unserer Gesprächspartner:innen. Dazu zählen auch die Kinder des verstorbenen Gabriel Bach, Michael und Orli Bach, die den Beitrag ihres Vaters freigegeben und liebevoll ergänzt haben. Wir freuen uns über jeden einzelnen »Farbklecks«, der zu diesem Projekt beigetragen hat und den wir, in einigen Fällen mehrere Jahre nach dem geführten Gespräch, hier nun präsentieren dürfen. Die Bilder, Assoziationen und Geschichten unserer Interviewpartner:innen stehen für sich. Wir haben sie weder bewertet noch eingeordnet. Unser Ziel war es nicht, in Debatten einzutreten, sondern abzubilden, was – aus Sicht unseres Gegenübers – die Beziehung zu Israel und Deutschland für sie oder ihn im jeweiligen Moment beschreibt.

Herausgekommen ist ein vielstimmiges Buch. In der Gesamtschau der Beiträge ist ein Zeitdokument entstanden, das die aktuelle Befindlichkeit in Bezug auf Deutschland und Israel zeigt. Dieses Buch ist persönlich, nahbar und subjektiv. Es ist Ausdruck unserer zerbrechlichen Weltlage und der aktuellen Schwierigkeiten im Umgang miteinander. Im Gespräch der einzelnen Beiträge miteinander – zwischen diesen Buchdeckeln – ist es uns im besten Fall gelungen zu überraschen, zu faszinieren und zu irritieren. Wir blicken auf Trennendes und Verbindendes, Ungewöhnliches und auch vermeintlich Typisches. Die gelebten Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen sind vielgestaltig und verschiedenartig. Nur eines sind sie nicht: schwarz-weiß.




Die Herausgeberinnen

TERESA SCHÄFER und ALEXANDRA NOCKE

Teresa Schäfer ist Philologin mit den Schwerpunkten zeitgenössische jüdische (Kultur-) Geschichte und zivilgesellschaftliche sowie politische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Nach dem Studium der Judaistik, Amerikanistik und Middle Eastern Studies in Berlin und Tel Aviv war sie u.a. für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Humboldt-Univerisität in Berlin und die Ausstellung Israelis & Deutsche (2015) der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V. (DIG) tätig. Seit 2019 ist sie Referentin bei der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum (DIZF).
Alexandra Nocke konzipiert und kuratiert Ausstellungen, Bücher und Kulturveranstaltungen. Sie arbeitet als Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin u.a. in Deutschland und Israel zu Fragen der Identitätsentwicklung in der zeitgenössischen israelischen Gesellschaft sowie zu Kunst und Literatur in Israel. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel The Place of the Mediterranean in Modern Israel Identiy (2009) veröffenlticht. Sie war u.a. für die Wanderausstellung Israelis & Deutsche (2015) sowie Insight: Micha Bar-Am's Israel (2011) des Magnum-Fotografen Micha Bar-Am verantwortlich. Seit 2022 ist sie auch für die Keruzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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