Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

Online-Extra Nr. 351


Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Deutschland. Israel. Einblicke.


ALEXANDRA NOCKE & TERESA SCHÄFER


Auszug:




JULIA FERMENTTO TZAISLER



[ Berlin kann das nicht kompensieren. ]




Die Schriftstellerin Julia Fermentto Tzaisler
wurde 1984 in Kfar Saba geboren und wuchs
in Israel auf. Ihr Debütroman Safari erschien
2011 und wurde ein Bestseller. 2015
veröffentlichte sie ihren zweiten Roman
Kfar Saba 2000. Sie erhielt hierfür mehrere
Auszeichnungen, unter anderem auch
den Minister of Culture Award for Young
Writers. Ihre Essays und Kurzgeschichten
erschienen in Übersetzungen in Israel,
Deutschland, Polen, Großbritannien und
den USA. Fermentto Tzaisler promovierte
in Jüdisch-Amerikanischer und Jiddischer
Literatur an der UC San Diego. Sie gründete
den PEN Israel und ist derzeit künstlerische
Leiterin des Jerusalem Writers Festival.
Julia Fermentto Tzaisler lebt in Tel Aviv.


Julia Fermentto Tzaisler, Tel Aviv, 2023 © Ori Taub




JULIA FERMENTTO TZAISLER
» DEUTSCHLAND

Interview am 5. Juni 2019 in Tel Aviv (Englisch)

Meine erste instinktive Assoziation ist nicht gut, sie geht mit ein wenig Angst einher. Ich denke an Mord. Vielleicht wie ein Messer, wie ein langer, eleganter Dolch, ein schwertähnlicher Dolch. Das Bild ist überhaupt nicht schwarz-weiß, es kommt mir sehr lebendig vor. Der Dolch sieht elegant aus, er ist edel. Er ist nicht brutal, man kann damit Briefe öffnen. Aber er ist auch optisch ansprechend und effizient. Ich bin in einem solchen Zuhause aufgewachsen, mein Vater gehört zur Zweiten Generation, da ist das so. Es ist immer lebendig und wurde nie zur Geschichte. Es ist nie die Vergangenheit, noch nicht. Ich denke, das ist eine ganz banale Sache: Sie haben mein Volk getötet. Ich habe andere Gedanken, aber irgendwie kommt es immer darauf zurück. Ich habe mehrere Freunde, die in Berlin leben, und ich habe auch andere Assoziationen, aber Berlin kann das nicht kompensieren. Manchmal kann es ein schöner Überwurf sein, aber ich komme immer wieder zum Messer zurück. Berlin funktioniert für mich nicht so. Ich war schon oft dort und es gefällt mir da, aber es fällt mir schwer, darüber hinauszugehen.

Mein erster Besuch in Deutschland war auch das erste Mal, dass ich alleine im Ausland war. Bei einem Englisch-Sommerkurs freundete ich mich mit einem Mädchen aus Regensburg an. Sie besuchte mich zu Hause bei meinen Eltern in Israel, und dann besuchte ich sie. Und ich hatte Freunde aus der Schule, die mich halb-scherzhaft vor meiner Reise warnten, ich solle aufpassen, dass sie mich in Deutschland nicht umbringen würden.


JULIA FERMENTTO TZAISLER  
» ISRAEL
Interview am 5. Juni 2019 in Tel Aviv (Englisch)

Ich denke an die Sonne, den spezifischen Gelbton der Sonne. Die ganz besondere sonnige Farbe, die der Himmel hier hat. Das kann vielleicht manchmal zu hell sein, aber auch sehr lebendig und gelblich. Es ist größtenteils positiv, aber wenn ich darüber nachdenke, kann es zu heiß sein. Doch überwiegend sonnig. Ein bisschen wie im Zauberer von Oz, wenn sie der Sonne entgegengehen. Eine riesige Sonne. Es gibt mir das Gefühl, zu Hause und sicher zu sein. An den Rändern brennt sie, aber größtenteils ist es sonnig und warm. Und ich stelle es mir fast wie ein Kind vor, wenn man manchmal sein Zuhause vermisst und den Drang verspürt, seine Mutter zu sehen. Für mich ist mein Zuhause ein fester Ort, es ist das Haus meiner Eltern, in dem ich aufgewachsen bin, in Kfar Saba. Es ist das Stück Land, das mein Großvater gekauft hat, als er hierherkam. Als meine Eltern irgendwann mal darüber nachdachten, das Haus zu verkaufen, reagierte ich sehr heftig. Es ist keine lockere Angelegenheit, sondern ich fühle mich sehr protektiv und etwas zwiegespalten. Als meine Großeltern das Haus bauten, pflanzte meine Großmutter Julia Zypressen rund um das Haus, das war der Ausblick meiner Kindheit.





[ Es ist das Stück Land,
das mein Großvater gekauft hat,
als er hierherkam. ]


JULIA FERMENTTO TZAISLER
/ NACHTRAG
Auszug aus der Süddeutschen Zeitung, »Ist da jemand?«, 9. November 2023, S. 9

Viele Menschen haben im letzten Monat auf grausame, teuflische und unverzeihliche Weise ihr Zuhause verloren. Für andere ist zwar die physische Bleibe unversehrt, aber das ideologische und geistige Zuhause wurde zertrümmert. Diese Heimat, der feste Boden, auf dem ich einst stand, waren für mich die Ideen und Werte, die mir den Weg wiesen: Humanismus, Feminismus und Liberalismus, kurz: die Linke. Dieses Haus wurde am 7. Oktober schwer getroffen, und seither wird es von vielen in Israel und in der ganzen Welt weiter zertrümmert – seine Türen aus den Angeln gehoben, seine Fenster zerbrochen.
Im Moment habe ich kein geistiges Zuhause mehr. In einer Zeit, in der Menschen ihre Liebsten und ihr Zuhause verlieren, weiß ich, dass mir Schlimmeres passieren könnte. Freunde auf der Rechten haben mir die Hand gereicht und wollen mich bei sich aufnehmen, aber auch wenn einige unserer Positionen sich mehr und mehr überschneiden, gehöre ich nicht dorthin. Ich gehöre nirgendwo hin, ich treibe durch den dichten historischen Nebel der geistigen Einsamkeit.
Vor meinem geistigen Auge taucht mein neues Zuhause auf, und es ähnelt jenen Häusern mit roten Dächern, die auf den Bechern des beliebten israelischen Tnuva-Hüttenkäses abgebildet sind. Es ist ein hebräisches Haus, das Menschlichkeit, Gleichheit und Liebe zum Leben verkörpert. Ich glaube, dass es eines Tages wieder aufgebaut werden wird. Und ich hoffe, dass es mit vielen aufrichtigen und mutigen Menschen gefüllt sein wird, die ihre Werte auf den Schultern tragen, statt sie als Krone auf ihr Haupt zu setzen.




















[ Es ist ein hebräisches Haus, das Menschlichkeit,
Gleichheit und Liebe zum Leben verkörpert. ]




















* Auszug ALMA SADÉ


* Auszug MARCEL REIF


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Eine Publikation der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V.

Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Deutschland. Israel. Einblicke.


Herausgegegen von
Alexandra Nocke & Teresa Schäfer


35 Menschen. 2 Fragen. 70 Bilder.



KOSTENFREI bestellen:
Deutschland.Israel.Einblicke

Mit einem Grußwort des Vorstandsvorsitzenden der KIgA e. V., Dervis Hizarci.
Mit einem Vorwort und einem Nachtrag zum 7. Oktober 2023 von Meron Mendel.

Mit Beiträgen von:
    
Rana Abu Fraiha-Asyag, Viviane Andereggen, Uri Avnery, Gabriel Bach, Micha Bar-Am, Sarah Blau, Noam Brusilovsky, Dorothee Bär, Joe Chialo, Tehila Darmon, Lizzie Doron, Julia Fermentto Tzaisler, Tomer Gardi, Uri Geller, Katrin Göring-Eckardt, Alexander Graf Lambsdorff, Jenny Havemann, Günther Jauch, Kevin Kühnert, Igor Levit, Kais Nashif, Anja Reich-Osang, Petra Pau, Idan Raichel, Benyamin Reich, Marcel Reif, Yael Ronen, Alma Sadé, Ben Salomo, Richard C. Schneider, Sara von Schwarze, Natan Sharansky, Shimon Stein, Micha Ullman, Günter Wallraff.