Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331
23.10.2024 - Nr. 2082

ACHTUNG:

Am Donnerstag, 31. Oktober 2024, erscheint noch einmal ein ONLINE-EXTRA-Special mit drei Texten, die sich um Aspekte und Folgen des 7. Oktober 2023 drehen. Im Interview erläutert Susannah Heschel u.a. die Folgen des Hamas-Massakers für die Dialog-Arbeit. Des weiteren ein Statement von Kardinal Pierbattista Pizzaballa OFM, dem Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, insbesondere über die gegenwärtige Situation der Christen in Israel und Gaza. Und schließlich ein Text des Schriftstellers Ferdinand von Schirach über Wahrheit und Lüge im Blick auf den 7. Oktober.


Guten Tag!

Nr. 2082 - 23. Oktober 2024



Er plante das Massaker vom 7. Oktober, nun ist er tot: Hamas-Chef Yahya Sinwar. Doch wer war er, was prägte ihn, was hat er getan und welchen Denkmustern folgte er? Drei Porträts zeichnen seinen Lebensweg nach. Am eindringlichsten, informativsten und nachhaltigsten unternimmt das der amerikanische Journalis David Remnick in einem sehr, wirklich sehr langen, aber hoch interessanten Porträt, das bereits Anfang August im US-Magazin "The New Yorker" erschien und nun in deutscher Übersetzung in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG veröffentlicht wurde. Undbedingt lesenswert: "Wer war Hamas-Chef Yahya Sinwar?"

Der Politikwissenschaftler Michael Borchard ist Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung; von 2014 bis 2017 hat er zudem das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel geleitet. In einem Beitrag für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zeichnet er die schwierige Beziehung zwischen der UNO und Israel seit 1947 nach, die in jüngerer Zeit und gewiss heute auf einem Tiefpunkt angelangt ist. Beispielsweise wurden zwischen 2015 und 2022 140 israelkritische Resolutionen von der Generalversammlung verabschiedet - und 68 Resolutionen bezogen sich auf den "Rest der Welt"(!):
"Aber auch in den Strukturen ist die Parteilichkeit längst tief verankert, mit zum Teil glasklarem Antisemitismus. Die 'Uno-Berichterstatterin zur Menschenrechtssituation in den palästinensischen Gebieten', Francesca Albanese aus Italien, setzt nicht nur explizit die Behandlung der Palästinenser mit dem Holocaust gleich, sondern wirft den USA und der Welt in eindeutig antisemitischer Manier vor, sie hätten sich der jüdischen Lobby unterworfen - als ob nicht bereits die Jahrzehnte antiisraelischer Tendenzen in den Vereinten Nationen dieses Argument widerlegten. Der Uno-Menschenrechtsausschuss geht seit Jahrzehnten in einem 'ständigen' Tagesordnungspunkt mit Israel hart ins Gericht. Das Urteil über die Mordtaten von Iran fällt dagegen eher mild aus."

Die Hisbollah ist ja nicht nur eine Terrororganisation, sondern im Libanon zudem noch ein Staat im Staate, der weitgehend die Infrastruktur, Gesundheitswesen und Sozialsystem in der Hand hat. Viele Libanesen, insbesondere der ca. 30 Prozent ausmachende christliche Bevölkerungsanteil, leidet unter der pseudostaatlichen Macht der Hisbollah seit Jahren. Joseph Daher schätzt sie im Interview mit der TAZ auf etwa 100.000 Mitglieder. Daher ist schweizerisch-syrischer Akademiker und Aktivist, der an der Universität Lausanne lehrt und hat über die Terrororganisation das „Hezbollah: The Political Economy of Lebanon’s Party of God“ geschrieben. Im Interview konstatiert er eine schwindende Popularität der Hisbollah, insbesondere beim schiitischen Teil der Bevölkerung:
"Zwar verteidigen die Menschen im Allgemeinen das Recht auf Widerstand oder sehen die Bombardierung und Invasion Israels negativ, doch das führt nicht zu einer breiteren politischen Unterstützung der Hisbollah. Die Spannungen innerhalb des Landes nehmen zu, und einige weigern sich, Geflüchtete oder Vertriebene aus den mehrheitlich schiitischen Gebieten aufzunehmen, aus Angst, Sektierertum und Rassismus. Die Hisbollah hat den breiten Rückhalt bei anderen religiösen Gruppen verloren. Sie ist in der schiitischen Gemeinschaft nach wie vor hegemoniale Kraft, aber jetzt gibt es mehr Kritik. Und die Frage stellt sich auch, ob die Hisbollah den Wiederaufbau nach dem Krieg leisten kann."

Im Blick auf die kritische Haltung der Weltöffentlichkeit zum Gaza-Krieg, mahnt der Historiker Michael Wolffsohn, dass ein schlüssiges Bild des scheinbar unlösbaren Konfliktes nur zu gewinnen ist, wenn man die lange Geschichte des Konflikts gut kenne und genau analysiere. Dies exerziert er in seinem Beitrag für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG am Beispiel des Begriffs "Palästina" und dessen Ursprünge. Diese Ortsbezeichnung, so Wolffsohn, gehe auf den römischen Kaiser Hadrian zurück, nachdem dieser im Jahre 135 den Aufstand der Juden in Judäa niedergeschlagen hatte und fortan nichts mehr an die Juden erinnern sollte: "'Palästina' sollte als extrem antijüdische Chiffre bedeuten: 'Land der Philister', denn: Die Philister waren sozusagen die Urfeinde der Juden Judäas." Die Philister freilich
"stammten von der Balkan-Halbinsel. Sie waren also keine Araber. Um das zwölfte vorchristliche Jahrhundert kamen die Philister bzw. die 'Seevölker' als Invasoren in den Vorderen Orient, wo sie, ostwärts ausgreifend, gegen die zuerst auf den Anhöhen des Westjordanlandes lebende vor- und frühjüdische Gemeinschaft anrannten. Warum mehr als dreitausend Jahre in die Geschichte zurück? Weil die heutige Selbstbezeichnung der Palästinenser als 'Palästinenser' gewollte Geschichtsklitterung ist."

Die Links dazu in der Rubrik ISRAEL UND NAHOST HINTERGRUND.

In Israel trauert man um ein weiteres, besonders tragisches Opfer des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023: mehr als ein Jahr nach dem Terrorangriff auf das Nova-Musikfestival hat sich die Überlebende Shirel Golan das Leben genommen – an ihrem 22. Geburtstag. Zu schlimm war offenbar das Trauma, das die junge Frau nach ihren Erlebnissen davongetragen hat.
Die Hinterbliebenen, so berichten SPIEGEL und T-ONLINE, kritisieren nun den Umgang der israelischen Behörden mit der 22-Jährigen. Die 22-Jährige wurde zweimal in ein Krankenhaus eingeliefert, aber die Familie betonte, dass sie nie offiziell als posttraumatisches Opfer des Nova Music Festivals anerkannt worden sei und keine staatliche Unterstützung erfahren habe. Zwar gibt es inzwischen nicht-staatliche Hilfsorganisationen, die therapeutische Hilfe organisieren, wie die TAZ berichtet, aber es reich nicht aus, um die Nachfrage abzudecken, ganz zu schweigen davon, dass sie sich vor großen Herausforderungen sehen:
"Die psychologische Behandlung von Nova-Überlebenden ist dabei medizinisches Neuland. Sie berichten von Vergewaltigungen, Folter, Enthauptungen und Leichenschändungen. Und noch nie wurden so viele Menschen unter dem Einfluss von Drogen, darunter auch bewusstseinsverändernden Substanzen wie LSD, stark traumatisiert."

In der WELT ein Interview mit niemand Geringerem als dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Der weist - welche Überraschung! - so ziemlich alle Vorwürfe an seiner Kriegführung zurück, auch die,  die israelische Armee habe Unifil-Truppen beschossen:
"Wir haben nicht das Geringste gegen die Unifil. Es stimmt allerdings, dass sich die Hisbollah oft hinter den Posten der Unifil verstecken, um Raketen auf uns abzuschießen. Ich bedauere sehr, dass die nach dem Hisbollah-Israel Krieg von 2006 in der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats beschlossenen Mechanismen nicht umgesetzt wurden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass diese Resolution verlangte, dass die einzigen südlich des Litani-Flusses vorhandenen Waffen die der libanesischen Armee sein dürfen. Dennoch hat die Hisbollah sich in dieser Region Hunderte von Tunneln und Verstecke gegraben, in denen wir eine Menge topmoderner russischer Waffen gefunden haben. Wie viele Raketen der Hisbollah hat die Unifil in den letzten zwanzig Jahren gestoppt? Leider keine einzige."
Und wie seine Idee zum Zusammenleben mit den Palästinensern aussieht, hört sich so an:
"Mein Lösungsvorschlag lautet seit Jahrzehnten: Die Palästinenser sollten alle Macht haben, um sich selbst regieren zu können, aber keine Macht, um Israel zu bedrohen. Ich war schon immer der Meinung, dass es eine Bedrohung für Israel bedeuten würde, wenn man den Palästinensern souveräne militärische Machtbefugnisse verleiht."

Ein Interview mit gänzlich anderem Tenor ist in der FAZ zu lesen. Die befragte den Vorsitzenden der israelischen Demokraten Yair Golan. Golan befürwortet zwar das militärische Vorgehen der israelischen Regierung im Libanon und auch in Gaza, fordert aber einen konkreten Plan für die Zukunft:
"Wir kämpfen in einer der am dichtesten besiedelten Gegenden der Welt. Das ist sehr hart, kompliziert und gefährlich. Sie haben das bestausgebaute Untergrundnetzwerk der Welt. Sie zahlen den Preis dafür, dass sie alle Ressourcen in die militärische Infrastruktur gesteckt haben statt in eine gesunde Zivilgesellschaft. Das ist der Teil, den ich nicht verstehe an der internationalen Kritik. Was ich aber verstehe, ist die Frage nach einer Zukunftsperspektive. Und da muss ich meine Regierung scharf kritisieren. Die Tötung von Hamas-Chef Yahya Sinwar ist eine Gelegenheit, die Freilassung der Geiseln zu erreichen und dadurch den Krieg im Gazastreifen zu beenden und den Wiederaufbauprozess einzuleiten, der dringend nötig ist. Die Regierung hat aber keinerlei Absicht, zu sagen: 'Wir haben es geschafft - wer stärkt jetzt moderate Elemente, wer übernimmt Verantwortung?' Sie sagt überhaupt nichts. Und das allein aus politischen und persönlichen Erwägungen Netanjahus."
 
Die Links zum Thema in der Rubrik ISRAEL INTERN.

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Der israelische Historiker Yehuda Bauer ist tot. Er starb am Freitag mit 98 Jahren in Jerusalem, wie die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) mitteilte. Bauer galt als einer der bekanntesten Holocaust-Forscher der Welt. 1926 in Prag geboren, konnte Bauers Familie am Tag des Einmarsches der deutschen Wehrmacht emigrieren. Bauer studierte Geschichte und lehrte später unter anderem an der Yale University. Von 1996 bis 2000 leitete er das internationale Zentrum für Holocaust-Studien an der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Er veröffentlichte über 40 Bücher über den Holocaust und Antisemitismus und beriet die IHRA, der heute 34 Mitgliedstaaten angehören. U.a. Klaus Hillenbrand, Thomas Thiel und Hannah M. Lessingen würdigen Bauers Leben in der TAZ, der FAZ und der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG mit eindrucksvollen Nachrufen. Und die schweizer-jüdische Wochenzeitung TACHLES beendet ihren Nachruf mit einem Zitat von Bauer aus seiner Rede vor dem deutschen Bundestag im Jahre 1988:
«Ich komme aus einem Volk, das der Welt die Zehn Gebote gegeben hat. Wir sollten uns darauf einigen, dass wir drei weitere brauchen, und das sind diese: Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und du sollst nie, aber auch nie, ein Zuschauer sein.»

Hilde Coppi, geboren 1909 in Berlin, gehörte zur weitläufigen NS-Widerstandsgruppe "Rote Kapelle". Zusammen mit ihrem Mann Hans verteilten sie Klebezettel und Flugblätter, beschafften Quartiere für Verfolgte und gaben heimlich abgehörte Radionachrichten weiter. Schwanger verhaftet, brachte sie ihren Sohn im Gefängnis zur Welt. Sie wurde im Alter von 34 Jahren 1943 in Plötzensee hingerichtet, knapp acht Monate nach ihrem Mann. In ebenso berührend wie bewegenden Bildern setzt Erfolgsregisseur Andreas Dreesen das Leben und Leiden der Hilde Coppi in Szene: "In Liebe, eure Hilde" läuft aktuell in unseren Kinos - und begeistert die Kritiker. Dreesen erzähle die Geschichte des Widerstands gegen Hitler, so Andreas Kilb in der FAZ, "aus neuer Perspektive: als Opfergang einer Frau, für die Politik und Gefühl nicht zu trennen sind." Viele Kritiker betonen, wie etwa Lena Karger in der WELT, die Entscheidung, "das Menschliche der Figuren hervorzuheben und sie nicht als politische Helden darzustellen" mache gerade die Stärke des Films aus.
Der Regisseur des Films, Andreas Dreesen, sagt im Interview mit RBB zu seinen Beweggründen, einen Film über Hilde Coppi zu drehen:
"Mich hat die Hauptfigur Hilde sehr berührt, weil sie so gar nicht dem Widerstandskämpfer-Klischee entspricht. Wo man denkt, ja, da laufen Leute mit ihrer Weltanschauung und einer erhobenen Faust durch die Gegend. Sondern Hilde ist ja eher ein sehr zurückhaltender, schüchterner, stiller Mensch, die eine innere Haltung zum Widerstand findet. Eigentlich vom Herzen, nicht so propagandistisch untersetzt. Ein natürlicher Anstand."
Und Liv Lisa Fries beschreibt im Interview mit der FAZ die besonderen Herausforderung als eher extrovertierte Schauspielerin in die Rolle der eher introvertierten Hilde Coppi zu schlüpfen:
"Ich bin von Natur aus eher extrovertiert und finde es oft einfacher, verbal zu kommunizieren. Hilde jedoch ist extrem schweigsam. Ich musste mich intensiv mit ihrer inneren Welt auseinandersetzen und lernen, ihre Gefühle nonverbal auszudrücken. Aber genau das macht sie so faszinierend: Ihr Widerstand war oft still, aber in seiner Konsequenz unglaublich stark."

Im Gespräch mit der JUNGLE WORLD berichtet die Gedenkstättenleiterin des Hauses der Wannseekonferenz Deborah Hartmann über ihren Kampf gegen Relativierungen, Gleichsetzungen und Vereinnahmungen von allen Seiten. Besonders heikel sei in diesem Zusammenhang der Umgang mit der AfD:
"Seitens der AfD gibt es einen großen Andrang, Gedenkstätten zu besuchen. Das ist natürlich eine Form der Instrumentalisierung, die diese Partei dafür nutzt, um sich als nicht geschichtsrevisionistisch zu inszenieren. Häufig organisieren Bundestagsabgeordnete Besuche für Menschen aus ihrem Wahlkreis, was über das Bundespresseamt finanziert wird. Wenn sich solche Gruppen ankündigen, haben wir bisher versucht, das differenziert anzugehen und sie nicht kategorisch abzulehnen - in der ganzen Ambivalenz, die da drinsteckt. Wir bereiten diese Führungen dann so auf, dass sie sehr klar in ihrer politischen Aussage sind. Wir haben einen gesellschaftlichen Auftrag, und vielleicht gibt es ja Menschen darunter, bei denen man ein Umdenken erzeugen kann, weil es sich nicht bei allen um gefestigte AfD-Mitglieder handelt."

Gerade jetzt mit dem Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa ist es wichtig, zu wissen, wo Verfolgung, Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung beginnen - das sagt Sven Keller von der "Dokumentation Obersalzberg". Die feiert in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Dazu eröffnete letzten Sonntag eine Ausstellung, die bis 16. März 2025 einen Rückblick auf die Anfänge gibt und auf den Weg zum dringend nötigen Erweiterungsbau, der vor einem Jahr eröffnet wurde. In den vergangenen zwölf Monaten haben 220.000 Menschen die neue Dauerausstellung besucht - ein Interesse, mit dem vor 25 Jahren niemand im Ansatz gerechnet hätte. Im Interview mit der SONNTAGSZEITUNG erzählt der Leiter der Dokumentation Obersalzberg, Sven Keller, für wie wichtig er NS-Erinnerungsarbeit hält und warum man Gedenkstättenbesuche nicht die Lösung für alles sein können: "Erinnerungsarbeit ist kein Heilmittel gegen Hass".

Die Links zu den Themen in der Rubrik VERGANGENHEIT...

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Mehr als 12 Monate nach dem 7. Oktober 2023 hat sich der Bundestag noch immer nicht auf den Text einer Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland verständigt. Um die Blockade zu überwinden hat nun eine Gruppe unterschiedlich zusammengesetzter Wissenschaftler einen Vorschlag entwickelt, den sie für konsensfähig erachten. Der Gruppe gehören an Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Jerzy Montag, Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof, der in München lehrende Soziologe Armin Nassehi, Andreas Paulus, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts, Miriam Rürup, Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam und Paula-Irene Villa Braslavsky, die Soziologie und Geschlechterforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt. In einem Beitrag für die FAZ fassen sie zunächst den bisherigen Diskussionsstand zusammen und erläutern ihren Vorschlag, der drei Ziele verfolgt:
"1. Berücksichtigung der Vielfalt jüdischer Stimmen und Integration jüdischer Pluralität;
2. Vereinbarkeit mit Grundgesetz und Völkerrecht;
3. Fokus auf Eigenverantwortlichkeit der Zivilgesellschaft."
Dazu heißt es:
"Wir beanspruchen nicht, repräsentativ zu handeln. Wir hoffen aber, dass dieser von jüdischen und nichtjüdischen Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten getragene Entwurf die Ideologisierung und juristische Verunklarung einiger Themen vermeidet und so die Formulierung einer konsensfähigen Resolution erleichtert. Unser Ziel ist nicht Kompromiss, sondern Konsens: nicht gegenseitiges Nachgeben, sondern die Formulierung von Grundsätzen, auf die sich alle Demokraten einigen können sollten."

Und neben diesem erläuternden Diskussionspapier ist der Formulierungsvorschlag der Wissenschaftlergruppe selbst natürlich auch in der FAZ zu lesen: "Schutz jüdischen Lebens: Ein Textvorschlag".

Die Empörung ist groß und reißt nicht ab: die Vizepräsidentin des Bundestags Aydan Özoguz hatte auf Instagram einen Post der links-israelischen und antizionistischen Organisation "Jewish Voice" geliked, in dem Zionismus mit Krieg gleichgesetzt wurde. Özoguz entschuldigte sich, es tue ihr leid, falls sie Gefühle verletzt habe - ging aber inhaltlich explizit nicht auf Distanz. Trotz aller Kritik hält die SPD an ihr fest. Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG twitterte daraufhin: "19 Tage noch bis zum Holocaust-Gedenken am 9. November. 19 Tage noch bis zum verlogensten aller Sätze: 'Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland.'"
Ganz anders sieht das Daniel Bax in der TAZ. Er schreibt, Özoguz habe ein "ruhiges, vermittelndes Naturell, Polemik ist ihr fremd" und zieht das Fazit:
"Mit Antisemitismus hat der Streit um ihr Posting wenig zu tun. Sondern mehr mit einer sehr deutschen Debatte, in der ein falsches Wort mehr Empörung auslöst als mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Armee."
Zu einem ganz anderen Schluß kommt wiederum Daniel Neumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Er schreibt in der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG:
"Nun muss man Israel nicht mögen. Und man kann Israels militärisches Vorgehen in Gaza und im Libanon verurteilen. Und man kann Antizionist sein. Und damit auch Antisemit. All das ist möglich. Und noch vieles mehr. Aber wenn man Bundestagsvizepräsidentin ist und damit Stellvertreterin des Bundestagspräsidenten, der wiederum das Parlament repräsentiert und nach dem Bundespräsidenten das zweithöchste Amt im Staat ausübt, dann, ja dann ist die Weiterverbreitung eines solchen Beitrags absolut inakzeptabel."

Wenn ein Hirte zum Wolf wird, hat man ein Problem. Vergangene Woche stellte sich heraus, dass ein Imam, ausgebildet am vom Bund geförderten Islamkolleg Deutschland, gegen Israel hetzt, berichet Arnfried Schenk in der ZEIT. Der Geistliche habe u.a. auf seiner Facebook-Seite geschrieben: "Verdammt die Unterdrücker und ihre blutrünstigen Unterstützer". Erschwerend komme hinzu: Er ist Imam einer Hamburger Moschee, in der laut Landesverfassungsschutz Islamisten verschiedener Strömungen ein und aus gehen. Eigentlich waren es gerade solche Tendenzen, denen man mit Einrichtungen wie dem Islamkolleg etwas entgegensetzen wollte. Schenk schildert den aktuellen Fall und macht Vorschläge, welche Konsequenzen zu ziehen seien: "Was nun?"

Als innenpolitische Sprecherin der Linken in Sachsen-Anhalt war Henriette Quade maßgeblich an der Aufklärung des Anschlags auf die Synagoge in Halle beteiligt. Jetzt verlässt sie nach 25-jähriger Mitgliedschaft enttäuscht die Partei. Grund für den Austritt sei der Antisemitismus in der Partei.In ihrem Austrittsschreiben an die Parteiführung, das im Wortlaut vorliegt, warf Quade ihrer Partei »unerträglichen Antisemitismus in den eigenen Reihen« vor. Sie beklagte weiter, die jüngst in dem Parteitagsbeschluss „Deeskalation und Abrüstung in Nahost – für Frieden, Völkerrecht – gegen jeden Rassismus und Antisemitismus“ verabschiedete Forderung, "Israel keine Waffen zu liefern, würde Israel bei ihrer Umsetzung in letzter Konsequenz schutzlos stellen." Diese Friedenspolitik laufe wie die Positionen zur Ukraine "auf eine Politik des Sterbenlassens" hinaus.
Genau diesen Parteitagsbeschluss nimmt Peter Laskowski in einer zornigen Analyse aufs Korn. "Die Linke steht vor einem moralischen Scherbenhaufen. Zwischen Solidarität mit Palästina, Antizionismus und dem Versuch, jeden Antisemitismus zu bekämpfen, stolpert sie über ihre eigenen ideologischen Beine", schreibt er in der JUNGLE WORLD - und urteilt:
"Der Beschluss entlarvt sich als das, was er ist: eine moralische Kapitulation. Die Forderung nach einem Waffenstillstand, ohne die Hamas als Aggressor klar zu benennen, ist nichts anderes als eine Einladung, die Gewalt fortzusetzen. Dies ist kein Friedensaufruf, sondern ein Freifahrtschein für die Fortsetzung des Terrors."
Auch Frederik Schindler kritisiert in der WELT besagten Pareitagsschluß, insbesondere die Tatsache, dass man mehrheitlich abgelehnt habe, in dem Beschluß im Blick auf das Massaker der Hamas von einem "eliminatorischen Antisemitismus" zu sprechen und titelt: "Wer der Hamas eliminatorischen Judenhass absprechen will, hat nichts verstanden".
Unterdessen berichten RBB und TAZ, dass weitere prominente Linken-Politiker über einen Partei-Austritt nachdenken.

Die Links zu den Themen in der Rubrik ANTISEMITISMUS.

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Der ehemalige palästinensische Außenminister Nasser Al-Kidwa und der frühere Premier Israels, Ehud Olmert, haben bei einem Treffen mit Papst Franziskus einen Friedensplan für Nahost vorgestellt. Gemeinsam mit einer Delegation von Friedensaktivisten erläuterten die Politiker am Donnerstag vergangener Woche bei Papst Franziskus ihre Ideen für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt. „Der Heilige Vater zeigte außerordentliches Interesse an den Friedensbemühungen im Nahen Osten“, so Olmert gegenüber dem Nachrichtenportal VATICAN NEWS, die über das Zusammentreffen berichten: "Politiker aus Israel und Palästina stellen Papst Friedensplan vor".

Eine für Dienstag vor einer Woche (15.10.) geplante öffentliche Debatte mit Fuad Hamdan, einem palästinensischen Münchner Aktivisten, und Gady Gronich, dem Geschäftsführer der Europäischen Rabbinerkonferenz in München, war an diesem Montag kurzfristig vom Dekanat München abgesagt worden, wie das SONNTAGSBLATT berichtet. Als Grund wurden Posts von Hamdan genannt, in denen er den israelischen Ministerpräsidenten mit Adolf Hitler und den Krieg in Gaza mit dem Holocaust verglichen haben soll. Kooperationspartner der Veranstaltung "Vergiftete Debatte, versperrte Wege" war die Gesellschaft "Freunde Abrahams" für interreligiösen Dialog. Deren Vorsitzender, der Ägyptologe und Religionswissenschaftler Stefan Jakob Wimmer, hält die Absage trotz der Vorwürfe gegen Hamdan für falsch. Es sei darum gegangen, Positionen, die auch er persönlich ablehne, zu diskutieren, betonte er im Interview mit dem SONNTAGSBLATT. Wimmer, der im Februar eine Handreichung mit Empfehlungen zum Umgang mit den Auswirkungen des 7. Oktober 2023 und des Gaza-Kriegs in Münchner Schulen, der Verwaltung sowie Gemeinden veröffentlicht hat (siehe Compass ONLINE-EXTRA Nr. 347), hält die Blockade notwendiger, auch strittiger Auseinandersetzungen für eine Fehler und erläutert:
"Die Debatte in der Stadtakademie war ein Versuch, diese Blockade zu durchbrechen – bewusst, indem man auch Positionen zur Sprache bringt, die nicht dem allgemeinen Konsens entsprechen, die zum Teil anstößig sein können und von vielen als antisemitisch eingestuft werden. Ich mag diese Positionen nicht, aber wir müssen uns doch damit auseinandersetzen! Man muss das doch behandeln. Ein Arzt kann doch auch keine Krankheit behandeln, indem er sagt, darüber reden wir nicht. Es geht doch darum, das Problem zu erkennen und zu besprechen, sonst finden wir keine Lösung. Diese Positionen werden ja ohnehin verbreitet – auf Demonstrationen, im Internet, überall -, aber eben ohne, dass wir aktiv darauf einwirken. Indem wir sie aus der öffentlichen Debatte ausgrenzen, lassen wir ihrer Verbreitung freien Lauf."

Erstmals gibt es eine deutschlandweite Studie, die die Studierenden der islamischen Theologie und der islamischen Religionspädagogik systematisch untersucht hat, berichtet Alexander Wolber für den HUMANISTISCHEN PRESSEDIENST. Ein Ergebnis: circa ein Viertel der Untersuchungsteilnehmenden vertritt eine fundamental islamistische Weltsicht und befürwortet die Islamisierung der Politik. Die Ergebnisse der Studie sollten bei aller Deutlichkeit der Befunde dennoch mit Bedacht interpretiert werden, mein Wolber: "Die Maske fällt – Islamismus made in Germany".

Die Links zu den Themen in der Rubrik
INTERRELIGIÖSE WELT.

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Die Frankfurter jüdische Gemeinde stellt sich neu auf. Nachdem der bisherige Gemeindechef Salomon Korn nicht mehr kandidierte, folgen ihm nun gleich zwei Kandidaten nach. Erstmals in der Geschichte der Frankfurter Gemeinde steht dieser nun eine Doppelspitze voran: Benjamin Graumann und Marc Grünbaum. Beide gehörten bereits in der vorherigen Legislaturperiode dem Vorstand an. Wie es zu dem Novum einer Doppelspitze kam, welche Veränderungen es noch gab und was die beiden Neuen im Führungsamt vorhaben, darüber berichtet Christine Schmitt für die JÜDISCHE ALLGEMEINE WOCHENZEITUNG: "Erstmals eine Doppelspitze".

Die Künstlerin und Autorin Miriam Yosef und Ina Holev, freie Autorin und Medienkulturwissenschaftlerin, haben 2020 die Initiative "Jüdisch & Intersektional" gegründet, deren Ziel es ist, Bildungsarbeit gegen Antisemitismus mit einer intersektionalen, queerfeministischen Perspektive zu verbinden - und sich damit an Personen zu wenden, die oft von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Im Gespräch mit der TAZ sprechen sie darüber, wie sich ihre Arbeit nach dem 7. Oktober verändert hat und üben scharfe Kritik an feministischen Organisationen, von denen sie als Jüdinnen tief enttäuscht sind: „Viele Bündnisse sind zerbrochen“.

Sergej ist Pianist und er ist jüdisch, genau wie seine Frau Lou. Trotzdem ist ihre Tochter Rosa noch nie in einer Synagoge gewesen – eine ganz normale jüdische Familie in Berlin. Aber sind sie noch eine Familie, und was ist das überhaupt? Um das herauszufinden, folgt Lou der Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante. In einem abgehalfterten Resort auf Gran Canaria trifft der ganze ex-sowjetische Clan aus Israel zusammen. Damit beginnt für Lou eine Suche nach sich selbst, einer Identität, die sich scheinabar aus lauter Splittern zusammensetzt - und es auf unerwartete Weise dann doch tun. So etwa lautet das Setting des neuen Romans, des fünften der preisgekrönten deutsch-aserbaidschanischen Autorin Olga Grjasnowa. Ein "jüdisches Buch durch und durch", meint Nicole Dreyfus, die den Roman in der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG vorstellt: "Das richtige Leben?"

Die Links zu den Beiträgen in der Rubrik JÜDISCHE WELT

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Jana Hochhalter (oder Highholder in den sozialen Netzwerken) und Jasmin Neubauer sind die wohl erfolgreichsten christlichen Influencerinnen im deutschsprachigen Raum. Doch mit ihren oft extremen und radikalen Ansichten stehen sie rechten und demokratiefeindlichen Parteien und Bewegungen gefährlich nahe, wie Imke Plesch in ihrem Beitrag für das SONNTAGSBLATT deutlich macht: "Wie christliche Influencer*innen unter dem Deckmantel der Religion rechte Inhalte verbreiten".

Der Dramaturg und Literaturwissenschaftler Michael Sommer stellt auf seinem Youtube-Channel „Sommers Weltliteratur to go“ große literarische Werke mithilfe von Playmobilfiguren dar - auch die Bibel! Von Oktober 2020 bis September 2021 wurden auf dem Chanel die biblischen Bücher nacheinander vorgestellt. Die biblische Welt bekommt hier ein Playmobil-Antlitz und wird pointiert erzählt. Im Interview mit FEINSCHWARZ erläutert er seine Motive und Konzeption. Auf die Frage, was denn seiner Meinung nach der rote Faden der Bibel sei, was all die biblischen Bücher zusammenhalte, antwortet er:
"Wir Menschen sind Geschichtentiere. Setzen Sie jemandem drei Bilder vor und sie oder er wird Ihnen im Nu die Geschichte dazu erzählen. Wir machen den ganzen Tag nichts anderes, als Geschichten nach dem Muster Figur-Problem-Lösung zu konstruieren, weil das unser Leben ist: Wir werden geboren, wir lösen Probleme, wir sterben. Insofern lässt es sich gar nicht vermeiden, auch bei so disparaten Textsammlungen wie der Bibel einen roten Faden zu erkennen, gerade weil die Protagonistin vom ersten bis zum letzten Buch fast immer vorkommt. Natürlich kann man die Bibel als Gottes Liebesgeschichte mit der Menschheit lesen. Wer das tut, sollte sich aber gerade in den ersten Büchern auf traumatische Erfahrungen einstellen, denn keine Beziehungsexpertin der Welt würde Ihnen empfehlen, mit einem Partner zusammenzubleiben, der so gewalttätig, eifersüchtig und auch grausam ist."

Der Link zum Interview in der Rubrik CHRISTLICHE WELT.

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Der 7. Oktober 2023 stellt für die Israelis eine Zäsur ohnegleichen dar. Von nun an wird es in der Zeitrechnung nur noch ein Davor und ein Danach geben. Ein Jahr danach versucht der von Gisela Dachs herausgegebene "Jüdische Almanach" einen Rückblick und eine Einordnung der Ereignisse. Die hier versammelten Texte, die diesmal alle aus Israel berichten, erzählen ganz persönliche Geschichten, es geht um Ortsbesichtigungen, Momentaufnahmen, Zustandsbeschreibungen, Zukunftsvisionen; es geht um den Zionismus, um Trauerarbeit, Erinnerung und Resilienz, um alte Bruchlinien und neuen möglichen Zusammenhalt. Mit Beiträgen u.a. von David Grossmann, Ayelet Gundar-Goshen, Eva Illouz, Etgar Keret, Fania Oz-Salzberger. Klaus Hillenbrand stellt den Almanach in der TAZ vor: "Die Katastrophe".

Der Link zur Buchvorstellung in der Rubrik ONLINE-REZENSIONEN.

Dies alles und noch viel mehr wie üblich direkt verlinkt, ergänzt von aktuellen FERNSEH-TIPPS sowie einschlägigen ONLINE-REZENSIONEN im heutigen COMPASS.


Einen angenehmen Tag wünscht


Dr. Christoph Münz

COMPASS

redaktion@compass-infodienst.de

(Editorial zusammengestellt unter Verwendung des Teasermaterials der erwähnten Artikel)



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