ACHTUNG:
Guten Tag!
Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 12. November 1974, geschah in New York etwas Außerordentliches: Erstmals sprach nicht der Vertreter eines Staates vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, sondern der Vertreter einer "Befreiungsorganisation", Jassir Arafat (1929-2004), Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Generalsekretär der Vereinten Nationen war seinerzeit Kurt Waldheim (1918 – 2007), ehemaliger SA-Mann und späterer österreichischer Bundespräsident. Arafat sprach unaufhörlich von Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit und verurteilte das "zionistische Gebilde" - das Wort "Israel" nahm er an keiner Stelle in den Mund - als unrechtmäßigen "Kolonialismus". Arno Widmann erinnert an jenen ersten Auftritt Arafats vor der Weltgemeinschaft in der FRANKFURTER RUNDSCHAU - und zitiert dabei den Abschnitt eines SPIEGEL-Berichts aus jenen Tagen, der die ganze Skurilität und Brisanz der Situation wohl auf den Punkt brachte:
„Erstmals wurde einem Guerilla-Führer die protokollarische Behandlung eines Staatsoberhauptes zuteil, der noch dazu das Staatsgebiet eines UN-Mitgliedes für sich beanspruchte.“
Der Link zum Beitrag in der Rubrik ISRAEL UND NAHOST HINTERGRUND.
Am 5. November hatte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Verteidigungsminister Yoav Gallant entlassen, was zu einem Sturm der Entrüstung führte. Der erfahrene und beliebte Ex-General Gallant galt vielen Israeli als fähiger Verteidigungsminister, zog jedoch den Zorn von Netanyahu auf sich, weil er ihm mehrfach widersprochen und auf eine politische Lösung für den Gazastreifen gepocht hatte. Nun bekleidet der Netanyahu-Loyalist Israel Katz den zweitwichtigsten Posten im Land, obwohl der 69-Jährige bisher eher mit undiplomatischen Tönen auffiel und international durch sein eher schlechtes Englisch sowie durch bizzarre Beiträge im Sozialen Netzwerk X aufffiel. Wer ist der Mann, der jetzt als Verteidigungsminister nicht nur die Kriegsführung leiten, sondern auch die Armee auf Vordermann bringen soll - und was kann er bewirken? Diesen Fragen versuchen TAGESSCHAU.de und NEUE ZÜRCHER ZEITUNG auf den Grund zu gehen: "Ein diplomatischer Bulldozer als Verteidigungsminister".
Der Link zum Thema in der Rubrik ISRAEL INTERN.
Die israelisch-palästinensische Initiative „Parents Circle – Families Forum“ bringt seit 1995 israelische und palästinensische Familien zusammen, die im Nahostkonflikt ein Familienmitglied verloren haben. Zudem bietet das Forum Bildungsprogramme und Hilfen zur Trauerbewältigung an. Für ihr Engagement erhält die Initiative nun den angesehenen Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis 2025, wie eine international besetzte Jury entschieden hat. „Ihr Engagement für die Förderung gewaltfreier Lösungen des Konflikts ergibt sich aus der gemeinsamen Erfahrung des Verlustes“, erklärt die Preis-Jury in ihrer Begründung. Die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg reagiert freilich mit deutlicher Kritik, wie Olaf Przybilla für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG berichtet: "Auszeichnung für israelisch-palästinensische Initiative".
In Zeiten des Gaza-Krieges und eines explosiven Nahostkonflikts sowie im Blick auf das belastete Verhältnis zwischen Israel und dessen stärkstem Unterstützer, der USA, kommt der Frage nach der Besetzung des US-Botschafterpostens in Israel eine besondere Bedeutung zu. Kürzlich wurde nun bekannt, dass unter dem designierten neuen US-Präsidenten Trump der frühere Gouverneur von Arkansas, Mike Huckabee, Botschafter in Tel Aviv werden. Erfahrungen als Diplomat hat er nicht, dafür gilt er als treuer Anhänger von Trump. Gregor-José Moser hat für die FRANKFURTER RUNDSCHAU zusammengetragen, was über Huckabee und seine Ansichten zu Israel und dem Nahen Osten bekannt ist: "Trumps neuer US-Botschafter in Israel: Das ist Huckabees Linie".
Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm ist derzeit viel unterwegs auf der Welt, um für seine alternative Sichtweise auf die kriegerische Situation im Nahen Osten zu werben. Dieser Tage war er für einen Vortrag und ein Seminar in Basel, was die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG nutzte, um mit ihm über seine Alternative zur scheinbar aussichtslosen Situation im Nahen Osten, über Menschenwürde, Kriegsverbrechen und Freundschaft zu sprechen. Zur Rolle der EU im Nahostkonflikt sagt er:
"Die EU müsste viel stärker auf dem internationalen Recht bestehen. Und sie hätte schon vor einem Jahr unentwegt einen Waffenstillstand fordern sollen – als Teil ihrer Pflicht, die Zivilbevölkerung in Gaza politisch und juristisch zu beschützen. Es ist selbstzerstörerisch für Europa, sich intern am Konzept der Menschenwürde zu messen, ausserhalb aber dessen Zerstörung zu dulden. Europa hat versagt, und dieses Versagen wird uns verfolgen."
Und nach Boehms Ausführungen im Interview antwortet er auf die abschließende Frage der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, ob er als Idealist sich als den wahren Realisten sehe:
"Unbedingt. Ist es realistisch, sieben Millionen Palästinenser aus der Gegend wegzuschaffen? Ist es realistisch, weiterhin von zwei Staaten zu sprechen? Ist es realistisch, einen jüdischen Gottesstaat zu errichten, wie es diese Regierung will? Diejenigen, die diese Gewalt gesät haben, sind die wahren Träumer. Zurzeit haben nur Idealisten eine realistische Alternative zum Albtraum."
Nicht ganz verwunderlich wächst die Zahl der Israelis, die aktuell ihr Land verlassen. Sie gehen nach Portugal, in die USA, nach Zypern oder Griechenland - und nach Valsesia in Italien, einhundert Kilometer westlich von Mailand. Wie viele es sind, weiß keiner genau, offizielle Zahlen sind wenig zuverlässig. Wer nach Valsesia kommt, landet zuerst im Büro von Ugo Luzzati und der berichtet, dass aktuell jeden Tag mindestens eine neue israelische Familie bei ihm vorspricht. Aber warum kommen die Israelis hier nach Italien? Trotz postfaschistischer Regierung? Dieser Frage geht Judith Poppe in ihrer Reportage für die TAZ auf den Grund: "Das Tal, wo Frieden wohnt".
Die Links zu den Beiträgen in der Rubrik ISRAEL, DEUTSCHLAND, EUROPA UND DIE WELT.
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Helga war gerademal 14 Jahre, Elisabeth sieben Jahre, als die beiden Schwestern aus Wien in das KZ Theresienstadt verschleppt wurden. Ihr Vater kam nach Auschwitz. Wie durch ein Wunder überlebte die ganze Familie die Shoah. Im Dokumentarfilm „Kreis der Wahrheit“ erzählen Helga Feldner-Busztin (1929 – 2024), die später als Ärztin praktizierte, und Elisabeth Scheiderbauer (Jahrgang 1936), die eine erfolgreiche Filmproduzentin wurde, ohne Verbitterung ihre Geschichte. Die bewegende Dokumentation von Robert Hofferer ist auch formal beeindruckend. Neben Interviews und Archivaufnahmen gibt es Tanz- und Gesangseinlagen, comicartige Animationen über die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte und bei aller Trauer mutmachende Texte des Liedermachers Konstantin Wecker, die von der mittlerweile 74-jährigen Schauspielerin Iris Berben nicht einfach vorgetragen, sondern lebendig gestaltet werden. DEUTSCHE WELLE und KINO-ZEIT (bitte die Reaktion des Filmemachers am Ende des Artikels beachten!) stellen den Dokumentarfilm vor und in der FRANKFURTER RUNDSCHAU spricht Iris Berben im Interview über die Dokumentation, ihre Motivation und was sie in Anbetracht der Dokumentation im Blick auf die Gegenwart denkt: „Die Kunst muss ungehorsam sein!“
Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) und ab 1941 stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, war einer der Hauptorganisatoren des Holocaust und verantwortlich für zahlreiche Kriegsverbrechen. Als er am 4. Juni 1942 infolge eines Attentats in Prag starb, kommentierte Thomas Mann das gewaltsame Ende des NS-Verbrechers lakonisch als den natürlichsten Tod, «den ein Bluthund wie er sterben kann». Wer war der Mann, der die politischen Gegner des Nationalsozialismus massenhaft verfolgen und ermorden liess? Der mit dem Vorsitz bei der Wannsee-Konferenz von 1942 den Holocaust strategisch zu planen und umzusetzen begann? Im Berliner Ausstellungszentrum Topographie des Terrors ist dem obersten Polizisten des NS-Staates jetzt eine grosse Ausstellung gewidmet, die Paul Jandl für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG besucht hat: "Wo immer die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg über ein Land herfiel, war auch Reinhard Heydrich mit seiner Tötungsmaschinerie zur Stelle".
In den Jahren 1940/41 ereignete sich in Deutschland eine systematische Vernichtungsaktion von erbkranken Menschen und Menschen mit Behinderung. In der historischen Forschung gilt sie als Vor- und Teststufe für die groß angelegten Vernichtungsaktionen in den NS-Konzentrationslagern der kommenden Jahre. Thomas Hörnig, Pfarrer i.R. und ehemals Professor für Diakoniewissenschaft und Diversity an der Evang. Hochschule Ludwigsburg zeigt in einem Beitrag für das DEUTSCHE PFARRERINNEN- und PFARRERBLATT, welche Vorgeschichte die Krankenmorde hatten und wie die Kirchen daran ideologisch und praktisch beteiligt waren: "Liturgisch unsichtbar?"
Am 13. November 2024 jährt sich zum 80. Mal der Todestag des seligen Carl Lampert. Er war der ranghöchste Geistliche, der von den Nationalsozialisten auf gemeinste Weise bespitzelt und schließlich getötet wurde. Er erlebte ein Jahr Konzentrationslager und dann fast zwei Jahre Einzelhaft mit vielen Verhören vor der Gestapo, mit Drangsalen und Demütigungen.
Carl Lampert wurde am 13. November 2011 in Dornbirn im österreichischen Vorarlberg seliggesprochen, wie die TAGESPOST berichtet: "Unerschütterliches Gottvertrauen mitten im Leid".
Max Josef Metzger stammte aus Schopfheim (Landkreis Lörrach) und gründete nach dem Ersten Weltkrieg mehrere katholische Friedensgruppen. Überdies setzte er sich für den Dialog zwischen den christlichen Kirchen ein. Seine pazifistische Haltung und seine Ablehnung der NS-Ideologie brachten ihn in Konflikt mit dem Hitler-Regime. Er wurde mehrfach verhaftet und im Oktober 1943 in einem Schauprozess in Berlin zum Tod verurteilt. Am 17. April 1944 richteten ihn die Nationalsozialisten in Brandenburg an der Havel hin. Auch er wurde nun in Freiburg seliggesprochen: "Katholische Kirche spricht NS-Märtyrer Max Josef Metzger selig".
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Der niederländische Bestseller-Autor Robert Vuijsje, 1970 in Amsterdam geboren, wo er bis heute lebt, zeigt sich in einem Beitrag für die WELT entsetzt über die Krawalle nach dem Fußballspiel zwischen Ajax und Maccabi Tel Aviv in Amsterdam. Inbesondere klagt er:
"Was ich aber noch schmerzhafter finde und auch so traurig und vorhersehbar: wie jede Seite in dieser Diskussion die Juden missbraucht, um ihren eigenen Standpunkt zu vertreten - als ob wir ein Mülleimer wären, in den jeder ungebeten seinen eigenen Müll werfen darf."
Zum einen zielt er damit auf die Seite der Rechtsextremisten um Geert Wilders, freilich, "auf der anderen Seite stehen die Menschen, die ich immer als meine Verbündeten angesehen habe. Niederländer unterschiedlicher Herkunft, die behaupten, gegen Rassismus zu sein", letzte Woche jedoch in Amsterdam Jagd auf Juden machten. "Ich selbst trage weiterhin den Davidstern um den Hals. Aber ich bin trotzdem froh, dass meine Kinder nicht jüdisch aussehen."
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG konstatiert der Historiker Michael Wolffsohn lakonisch zu Beginn seines Beitrages: "Die Amsterdamer «Judenjagd» ist nichts Neues in der jüdischen Weltgeschichte. Jäger, Rechtfertigung, Anlass, Akteure und Aktionen wechseln – das Jagdobjekt bleibt: Juden." Und ebenso lakonisch geht er davon aus, dass eine solche "Judenjagd", wie sie in Amsterdam stattfand, kein Einzelfall bleiben werde. In seinem Beitrag analysiert er einen in seinen Augen entscheidenden Wandel. Die jahrtausendelang übliche, christlich-religiöse Judenfeindschaft sei heute bedeutungslos geworden:
"Ihre Reste sind unerfreulich, aber harmlos. Erstens, weil Katholiken und Protestanten ihrem theologisch un- und widersinnigen Antijudaismus abgeschworen haben. Zweitens, weil beide Kirchen in Westeuropas nahezu heidnischer Gesellschaft nichts mehr wirklich 'zu melden haben'."
An dessen Stelle sei der religiös-fundamentalistische Islamismus getreten, der mit der Zuwanderung aus den muslimischen Ländern in Europa Einzug erhalten habe:
"Viele aus radikalislamischen Staaten, wo ihnen Judenhass von Kindesbeinen an eingehämmert wird. Das bedeutet: Die Probleme von innen werden durch diese Migranten verschärft, denn wie bei jedem Menschen bedeutet ein Ortswechsel des Körpers keine Veränderung der Seele, Sorgen oder Wünsche. Diese Zuwanderung ist eine Folge der Entkolonialisierung des Orients, der dortigen Nachfolgekriege sowie der wirtschaftlichen Anziehung Europas. Durch die demografische Verflechtung mit der islamischen Welt wurde Europa zu ihrem Nebenschauplatz, zur zweiten Front. Nicht zuletzt in ihrem Kampf gegen Israel und 'die' Juden."
"Ich bin wieder Jude" titelt der Drehbuchautor und Schriftsteller Michel Bergmann ("Die Teilacher") seinen bewegenden Beitrag in der FAZ, in dem er mit unverblümter Verzweiflung feststellt, wie bedrohlich der Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 auch und gerade in diesem Land wieder geworden ist - wie tief er in den Alltag der Jüdinnen und Juden eingreift:
"Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, muss ich damit rechnen, dass jemand heimlich ein Hakenkreuz an die Wand geschmiert hat oder einen Davidstern oder das Wort „Jude“, das inzwischen zum Schimpfwort wurde. Nie mehr käme ich auf den Gedanken, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen oder ein Kettchen mit einem Davidstern um den Hals oder einen Chanukka-Leuchter ins Fenster zu stellen. Es besteht Lebensgefahr. Hier. In Deutschland. In meiner Heimat."
Vor allem aber erschüttert ihn, wie sehr er selbst, die Israelis und auch die Juden in der Diaspora sich allein gelassen fühlen:
"Es ist mir unbegreiflich, weshalb sich die Menschen in diesem Land nicht vorstellen können, was in uns jüdischen Deutschen seit dem 7. Oktober 2023 vorgeht? Warum werden unsere Gefühle ignoriert? Worte von Jüdinnen und Juden verhallen ungehört. Woher kommt diese Abgestumpftheit, ja diese Empathielosigkeit? Warum müssen es jüdische Menschen sein, die in Frankfurt am Main, in Berlin und anderswo Demonstrationen initiieren oder Mahnwachen organisieren? Wo bleibt der Aufschrei der Bürger? Ich habe innerhalb eines Jahres insgesamt fünf E-Mails, Whatsapp-Nachrichten und Telefonanrufe von mitfühlenden nichtjüdischen Freunden und Kollegen bekommen, das war’s. Wieso so wenige? Diese Frage treibt mich seit Monaten um. Es gibt einen Erklärungsversuch: Liegt es vielleicht daran, dass die meisten Menschen sich ihre eigene Vernichtung nicht ausdenken können?"
Ähnlich auch der israelische Schriftsteller Etgar Keret, der im Interview mit der TAZ ebenfalls die naehezu weltweit Desolidarisierung schmerzlich beklagt:
"Hier ist erst das zweite Mal seit Kriegsbeginn, dass ich außerhalb Israels spreche. Für gewöhnlich bekomme ich pro Jahr 15 bis 20 Einladungen aus Ländern in Europa."
Vor allem aber nimmt Keret den literarisch breit aufgestellen Kulturboykott gegenüber Israel in den Blick, wie ihn Sally Rooney, Rachel Kushner und Co. propagieren, was er als "nicht so weit entfernt von der Kollaterallogik eines Benjamin Netanjahu" sieht:
"Weil die Hamas am 7. Oktober Israel angriff, lässt er Unschuldige bombardieren, darunter Frauen und Kinder. Die Logik der Sally Rooneys und Rachel Kushners dieser Welt lautet: Beenden wir den Krieg in Gaza, indem wir den Verleger von David Grossman boykottieren! Wenn David Grossman nicht mehr publiziert wird, wird der Krieg enden und wir retten die Bevölkerung von Gaza. ... Diese Logik entspringt einer Faulheit, sich das eigentliche Ziel vorzunehmen. Man könnte stattdessen zum Boykott von Waffenexporteuren aufrufen. Weil man aber an sein eigentliches Ziel nicht herankommt, nimmt man sich ein naheliegendes vor und den Kollateralschaden bewusst in Kauf. Wir erleben gerade eine Dummheit, durch die Bank, quer durch alle politischen Zugehörigkeiten."
Der von Basel Adras, Hamdan Ballals, Yuval Abrahams und Rachel Szors kollektiv inszenierte Dokumentar-Essayfilm "No Other Land" über die Auseinandersetzungen im Westjordanland ist auf der Berlinale zu Beginn diesen Jahres mehrfach ausgezeichnet worden. In Erinnerung geblieben sind freilich zunächst sehr viel mehr die Ansprachen der Filmemacher auf der Berlinale, die im Februar zu einer aufgeregten Antisemitismus-Kontroverse führten (siehe Compass 28.02.2024). Seit kurzem ist nun der Dokumentarfilm selbst in unseren Kinos zu sehen - und die Filmkritiker diskutieren: ist der Film nun antisemitisch oder nicht? In der WELT ist Hanns-Georg Rodek alles in allem sehr beeindruckt von diesem "Aktivistenfilm" und konstatiert, dass sich die Filmemacher mit ihrer "Genozid"-Ansprache bei der Preisverleihung einen Bärendienst erwiesen haben. Denn anhand des Films könne man entgegen der Äußerungen auf der Berlinale-Bühne eigentlich "gut die Unterschiede zwischen 'antisemitisch', 'antizionistisch' und 'anti-Regierung Netanyahu' aufzeigen. Es gibt darin nichts von dem plump-rassistischen antisemitischen Hass, wie er auf deutschen Straßen inzwischen allzu alltäglich geworden ist. Es gibt keine antizionistischen Rufe." Man könnte über diesen Film "politisch streiten, ohne den Begriff 'Antisemitismus' zu benutzen."
Und auch Bert Rebhandl schreibt in der FAZ, dies sei "ein engagierter Dokumentarfilm", der "nicht propagandistisch ist. Glaubwürdig wird das dokumentarische Vorhaben nicht zuletzt durch die Freundschaft von Basel und Yuval. Sie deutet eine Möglichkeit an, wie Menschen in Israel/Palästina auch zusammenleben könnten."
Komplett anders sieht das der Filmkritiker Rüdiger Suchsland im Filmmagazin ARTECHOK. Er sah einen "bewusst unscharfen, ungenauen, diffuse antiisraelischen und antijüdische Ressentiments aufkochenden, spekulativen Film", dem historische Kontexte völlig gleich seien. Die Filmemacher
"wissen schon alles und sie kennen die Schuldigen. Die Bösen sind die Israelis, die immer nur Böses tun, drangsalieren, massakrieren, Häuser räumen, vertreiben. Die Guten sind die Araber, denn sie führen immer nur das Beste im Schilde und sie leiden unter den Bösen." Der Film "bedient Vorurteile, verfälscht Fakten und ist kriegstreiberisch. Er will nicht ausgewogen oder gerecht sein, sondern einseitig und ungerecht. Ein Machwerk."
Ebenso kritisch Sabine Horst, die den Film für CHRISMON seziert und am Ende urteilt:
"Die Preise der Berlinale waren keine für einen herausragenden Dokumentarfilm; sie zeichneten eine politische Tendenz aus."
Die Links zu den Themen in der Rubrik ANTISEMITISMUS.
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Für reichlich Wirbel sorgt Papst Franziskus mit jüngsten Äußerungen zum Gaza-Krieg: Franziskus hat sich dafür ausgesprochen, die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen eingehend zu untersuchen. «Nach Ansicht einiger Experten weist das Geschehen in Gaza die Merkmale eines Völkermords auf», so Franziskus in einem neuen Buch. «Wir sollten sorgfältig prüfen, ob es in die von Juristen und internationalen Gremien formulierte technische Definition passt.» Wobei der Papst Israel allerdings nicht explizit nennt. Gleichwohl hagelt es Widerspruch und Kritik - vom israelischen Botschafter beim Vatikan, der Europäischen Rabbinerkonferenz, aber auch etwa von dem Salzburger Theologen Gregor Maria Hoff, der dem Papst vorwirt, sich mit seinen Äußerungen zu einer Partei im Konflikt gemacht habe und letztlich damit den Antisemitismus befördere. Und in der FAZ kommentiert Thomas Jansen:
"Dass er Israel dabei nicht namentlich nennt, ändert daran nichts. Seit Beginn des Gazakriegs gilt seine Barmherzigkeit offenkundig vor allem der Hamas. Als er jüngst befreite israelische Geiseln im Vatikan empfing, kam ihm das Wort „Terrorismus“ nicht über die Lippen."
Die Salvatorian Sisters School in Nazareth ist eine christlichen Mädchenschule mit rund 1500 Schülerinnen, die überwiegend verschiedenen christlichen Denominationen, aber auch dem Islam angehören. Betrieben wird die Schule vom Orden der Salvatorianerinnen. Der Unterricht an der Schule findet in den drei Sprachen Arabisch, Hebräisch und Englisch statt, und die Schülerinnen absolvieren ihr Abitur in diesen drei Sprachen sowie in weiteren Fächern. Nun hat das israelische Bildungsministerium die Salvatorian Sisters School als beste Bildungseinrichtung des Landes ausgezeichnet. Anlass für die TAGESPOST mit zwei Lehrkräften der Schule ein Interview zu führen: "Mauern einreißen durch Bildung und Dialog".
Der ehemalige Moderator der ZDF-Sendung "Disco" wurde mit seinem Slogan "Licht aus, Spot an" berühmt. Ilja Richter, Sohn einer jüdischen Mutter und eines atheistischen Vaters, hat jetzt ein Buch über Gott geschrieben, in dem er seine Suche nach religiöser Heimat und Zugehörigkeit zwischen Judentum und Christentum beschreibt. Dabei umkreist er das Thema mal ernst, mal heiter: in bitter-komischen Erzählungen, pointierten Dialogen und nachdenklichen Betrachtungen. Die Mischung aus Glossen, Fakten, Poesie und Zitaten eröffnet auf diese Weise einen ungewöhnlichen Blick in die Welt des Glaubens. DOMRADIO sprach mit Richter über sein Buch und seine Suche: "Zwische Kreuz und Davidstern".
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Wie sichtbar kann jüdisches Leben in einer zunehmend indifferent bis feindselig eingestellten Öffentlichkeit sein? Trägt Anpassung zum Abbau von Vorurteilen bei, oder ist sie Ausdruck einer gefährlichen Illusion? Entlang dieser Fragen sprachen, lasen und diskutierten am vergangenen Montag Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller und Philosophen im Jüdischen Museum Frankfurt. Dies alles im Rahmen einer Fachtagung mit dem Titel »Jüdisches Leben in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Autonomie«, die von der Initiative für kulturelle Integration organisiert und ausgerichtet wurde. Im Mittelpunkt der Tagung stand u.a. die zunehmende Ausgrenzung jüdischer Künstler und jüdischer Kultur. Neben Zentralratspräsident Schuster hielt auch der israelische Soziologe Natan Sznaider einen Vortrag und forderte mehr jüdische Autonomie. Die JÜDISCHE ALLGEMEINE WOCHENZEITUNG, FAZ und TAZ berichten ausführlich über die Tagung: "Unsichtbarkeit ist keine Option".
Was sagt das Judentum eigentlich zu Homosexualität? Wie geht es jüdischen Menschen in der queeren Szene? Diese Woche starten die 3. Queer-Jüdischen Tage in Thüringen, in der sich alles um genau diese Fragen dreht, wie Florian Dobenecker für die THÜRINGER ALLGEMEINE berichtet. Ergänzend dazu erzählt Christian Höller im Magazin QUEER das tragische Schicksal des jüdischen und schwulen Malers Max Oppenheimer (1885-1954), der aktuell wiederentdeckt wird: "Schwul und jüdisch: Das tragische Schicksal von Max Oppenheimer".
Das Theaterschiff MS Goldberg vermittelt jüdische Kultur so lebendig wie wenig andere Projekte in Deutschland. Fast jeden Abend finden dort Veranstaltungen mit jüdischen Künstlern oder zu jüdischer Kultur statt. In der Regel ist das Schiff in Berlin zu finden, tourt aber auch etwa durch die Kanäle Brandenburgs, von der Elbe bis zur Oder. Trotzdem wird es mit keinem Cent gefördert, was nun dazu führt, dass den Betreibern die Kosten davon laufen, wie Alan Posner in der WELT berichtet - und den Berliner Kultursenator Joe Chialo dringend auffordert, dem Theaterschiff finanziell unter die Arme zu greifen: "Ein Stück jüdisches Leben droht unterzugehen".
Ebenfalls in der WELT und wiederum Alan Posener weist auf einen Konzertfilm hin, der von einer Musik erzählt, die über 70 Jahre lang als verloren galt: Jüdische Künstler nahmen noch in den Dreißiger-Jahren hunderte Lieder auf. Nun wurden sie mit Live-Auftritten wiederbelebt. Christoph Weinerts Konzertfilm „I Dance, But My Heart Is Crying“ zeigt ein Konzert des Ensembles im Berliner Gorki-Theater, ergänzt von Interviews mit den Musikern sowie mit dem Musikologen Reiner E. Lotz und dem Historiker Ejal Jakob Eisler. Posener ist vom Ergebnis begeistert:
"Es ist ein Film, der ohne Effekte und Dramatik auskommt, der die Musik und die Musiker wirken lässt; ein Dokumentarfilm im besten Sinne. Selbst wer mit Klezmer wenig anfangen kann, wird von dem schieren Können und dem offensichtlichen Spaß, den die Musiker beim Auftritt haben, angesteckt."
Bei der kommenden Bundestagswahl werden auch jüdische Deutsche ihre Stimme abgeben. Aber für wen? Kürzlich erklärte Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky warum es für ihn bei der Bundestagswahl nur um eine Frage geht: Welche Partei verhindert Zustände wie in Amsterdam? Nur diese Partei dürften Juden wählen. Daraufhin erhielt er viele Reaktionen von Jüdinnen und Juden, die alle die Frage gestellt hätten: Ja müssen wir jetzt die AfD wählen? Im Interview mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG erläutert er seine Empfehlung und gibt Auskunft zur gegenwärtigen Lage der Juden in Deutschland. Auf die Frage, wie er die Mitte der deutschen Gesellschaft aktuell erlebe, antwortet er:
"Die Ablehnung ist indirekt, aber deutlich. Man freut sich offiziell über jüdisches Leben in Deutschland, aber man lehnt die Orthodoxie und jemanden wie mich im Amt des Landesrabbiners ab. Das finde ich empörend. Die Deutschen haben nicht das Privileg, sich auszusuchen, welche Juden hierher gehören und welche nicht. Ich bin in Jerusalem zur Welt gekommen, und ich liebe Israel. Aber ich bin ein deutscher Jude mit einem deutschen Pass. Hamburg steht für mich an erster Stelle."
Benjamin lebt in einem ukrainischen Nest. Er hasst die Enge seines Dorfes und seiner Ehe, liebt alte Reiseberichte und träumt von einer eigenen triumphalen Reise auf den Spuren Alexanders des Großen, von der er berühmt und als Erlöser der russischen Juden zurückkehren wird. Er überredet seinen Freund Senderl, mit ihm auszubüxen, und zusammen reisen sie wie Don Quichote und Sancho Pansa, von Missgeschicken verfolgt, durch die jüdische Provinz. Als der Roman "Die Reisen Benjamins des Dritten" von Scholem J. Abramowitsch 1878 in Wilna erschien, erkannten jiddische Leser sofort, dass es sich hier um eine riskante politische Satire handelte. Seit einiger Zeit liegt dieser Klassiker eines "jüdischen Don Quijote" in einer neuen Übersetzung vor, die Christian Thomas in der FRANKFURTER RUNDSCHAU empfiehlt: "Tränen so groß wie Bohnen".
Die Links zu den Beiträgen in der Rubrik JÜDISCHE WELT
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Umfragen sagen der CDU derzeit gute Chancen voraus, stärkste Kraft im nächsten Bundestag zu werden. Dann hätte CDU-Chef Friedrich Merz gute Chancen, der nächste Bundeskanzler zu werden. Aber wie steht der Jurist und ehemalige Lobbyist des Finanzinvestors Blackrock zu Glaube und Religion? Dieser Frage hat sich Oliver Marquart in einem Beitrag für das SONNTAGSBLATT angenommen: "Friedrich Merz: Wie der CDU-Politiker zu Religion und Glaube steht."
Dass ein Großteil der russischen Bevölkerung den Krieg gegen die Ukraine ungebrochen unterstützt, liegt nicht zuletzt am Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, die Putins Krieg für "heilig" erklärt hat und als "unvermeidbares Faktum" verkauft, so der Politikwissenschaftler Jörg Himmelreich in einem Beitrag für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG:
"Miserable Lebensverhältnisse, wie Revolution, Krieg, Unterdrückung, Okkupation, werden im traditionalistischen Denken der orthodoxen Theologie als göttliches Strafgericht gedeutet: Gott lässt diese Dinge geschehen, um die Menschen für begangene Übel zu strafen und um sie auf den besseren Weg zu führen. Ein solches Erlösungsverständnis führt zu religiösem und von da zu politischem Fatalismus. Es animiert zur leidenschaftslosen Hinnahme des äußeren Geschickes, das ohnehin nicht zu ändern ist. Diese Schicksalsverfallenheit hemmt jeden russisch-orthodoxen Christen in seiner sozialen und politischen Aktivität - und ist unweigerlich auch eine verborgene Ursache für die fatalistische Unterstützung Putins und seines verbrecherischen Krieges."
Die Links dazu in der Rubrik CHRISTLICHE WELT.
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Steven E. Aschheim , Historiker und emeritierter Professor der Hebräischen Universität Jerusalem, gilt als einer der renommiertesten Forscher auf den Gebieten der Intellektuellengeschichte sowie der modernen deutschen und jüdischen Geschichte. Nun liegt ein Band von ihm vor, der seine wichtigsten ideen- und kulturhistorischen Studien enthält. Sie reichen von den Erfahrungen in den ostjüdischen Schtetl über den Zionismus als Befreiungsbewegung, die ikonischen jüdischen Intellektuellen (Adorno/Horkheimer, Benjamin, Strauss u. a.) bis zum Umgang mit dem Holocaust: Assimilation, Selbstbehauptung und Ausgrenzung prägten die deutsch-jüdische Erfahrung zwischen kulturellem Glanz und dem Abgrund der Katastrophe. In seinen Essays vermag Aschheim immer wieder auch die Bezüge zur Gegenwart herzustellen – zur Präsenz des Antisemitismus und zur Relevanz deutsch-jüdischer Geistestraditionen, wie Jakob Hessing in seiner Buchvorstellung für die JÜDISCHE ALLGEMEINE WOCHENZEITUNG deutlich macht: "Entwurzelte Denker".
Der Link zur Buchvorstellung in der Rubrik ONLINE-REZENSIONEN.
Einen angenehmen Tag wünscht
Dr. Christoph Münz
redaktion@compass-infodienst.de
(Editorial zusammengestellt unter Verwendung des Teasermaterials der erwähnten Artikel)
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