Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331
17.04.2025 - Nr. 2102

ACHTUNG:

Am Dienstag, 29. April 2025, erscheint ONLINE-EXTRA Nr. 363 mit einem Beitrag von Peter Haigis: "Vom Bilderkult zur Buchreligion".


Guten Tag!

Nr. 2102 - 17. April 2025



In Israel wächst der Widerstand gegen den Krieg im Gazastreifen, auch beim Militär. Rund 1.000 Veteranen und Reservisten der Luftwaffe forderten jetzt in einem offenen Brief das Kriegsende, dem hunderte weitere aktive und pensionierte Reservisten aus verschiedenen Einheiten folgten. Und es sind nicht allein Veteranen und Reservisten, die das Militär und die Regierung zunehmend unter Druck setzen. Hinzu gesellen sich eine Reihe von Geheimdienstlern bis hin zu Nobelpreisträgern, wie Steffi Hentschke in der ZEIT berichtet und anmerkt, die Unterstützung der Elite des Landes für die Kriegsgegner widerlege Netanjahus Versuche, sie als linke Anarchisten zu diffamieren. Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, wie Jan-Christoph Kitzler für TAGESSCHAU.de schildert:
"Viel ist in Israel inzwischen auch die Rede von der "grauen Verweigerung" durch Soldaten, die sich nicht öffentlich erklären und nicht unbedingt politische Motive für die Verweigerung haben. Viele sind erschöpft vom Krieg oder traumatisiert, vermutlich verweigern etliche auch auch aus ökonomischen Motiven. ... Und dann gibt es noch die, die den Krieg ganz grundsätzlich ablehnen. Die den totalen Sieg über die Hamas, den Israels Premier Benjamin Netanjahu zum Kriegsziel erklärt hat, für eine Illusion halten und das Leid der palästinensischen Bevölkerung in Gaza für zu groß."
Das meinen auch - ebenfalls öffentich - 350 Autoren und Schriftsteller in einem offenen Brief und werfen Netanjahu persönliche Beweggründe für die Weiterführung des Krieges vor. Zu den Unterzeichnern gehören bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie David Grossman, Joshua Sobol und Zeruya Shalev. Die wachsende Unterstützung für die Kritiker zeigt, dass der Protest im Land an Fahrt gewinnt, trotz Ablehnung seitens der Regierung. Oder wie Christian Meier seine Reportage für die FAZ überschreibt:
"Jeden Tag ein neuer Protestbrief gegen den Krieg".

Bis heute ringen die Israelis darum, zu verstehen, wie es zum 7. Oktober und insbesondere zum Versagen des Militärs kommen konnte. Eine staatliche Kommission könnte Klärung schaffen, aber Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wehrt sich nach Kräften dagegen – denn auch ihm könnte eine Mitverantwortung zugewiesen werden. Er sieht die Schuld ganz bei den Sicherheitskräften: der Armee und dem Inlandsgeheimdienst. Die haben zugegeben, dass sie viele Warnsignale nicht ernst genommen haben. Und im Gegensatz zum Staat haben Armee und Schin Bet selbst in den vergangenen Wochen mehrere Untersuchungsberichte veröffentlicht. Sie zeichnen detailliert nach, was in den überfallenen Orten geschah und wie die Armee reagierte. Mitte März präsentierte die Armee bei einem Treffen mit Bewohnern den Bericht für Nir Oz, der unter der Leitung von Generalmajor Eran Niv in etwa zehn Monaten erstellt wurde. 47 Menschen wurden damals in Nir Oz ermordet, 76 weitere in den Gazastreifen verschleppt – fast ein Drittel aller, die an diesem Tag entführt wurden. An kaum einem anderen Ort wüteten die Angreifer so massiv – und so ungestört. Was der Militärbericht für Nir Oz ermittelte, zeichnet Christian Meier akribisch in einem längeren Bericht für die FAZ nach und schildert, wie die Bewohner des Kibbuz mit den Ergebnissen umgehen: "Das größte Versagen in der Geschichte der Armee".

Lizzie Doron hat ihr Leben lang gekämpft – für eine Heimat ohne Verfolgung, für Frieden mit den palästinensischen Nachbarn, für Freiheit und Demokratie. Dann kam der 7. Oktober. Inzwischen sind über anderthalb Jahre vergangen. Auf das Grauen der Kriegsmonate folgte ein brüchiger Waffenstillstand. Gibt es eine Zukunft, an die man heute noch glauben kann? Lizzie Doron schreibt in ihrem neuen Buch von ihrem Alltag, den es nicht gibt und der doch weitergeht: Begegnungen mit Hinterbliebenen, absurd-komische Szenen mit den Enkeln im Luftschutzraum, politische Diskussionen beim Friseur, schal werdende Gedenkveranstaltungen, Schweigen am Telefon mit dem palästinensischen Freund. Im Interview mit dem österreichischen STANDARD erzählt sie von "ihrem" 7. Oktober und darüber, wie sich Israel verändert hat. Ihr Ausblick am Ende des Interviews ist wenig ermutigend:
"Wir müssen Netanjahu und die faschistischen Parlamentsmitglieder loswerden. Aber das reicht nicht, die Atmosphäre in Israel, der Konflikt zwischen den Siedlern, den religiösen und säkularen Menschen ... Ich fühle mich Israel als einem jüdischen Staat nicht wirklich verbunden, ich stelle Werte vor Kriterien wie Nationalität oder Religion. Ich habe das Gefühl, dass Israel als demokratisches Land an ein Ende kommt. Der Staat wurde demoliert, so fühlt es sich an. In Gaza sieht man es konkret, in Israel aber ist die Seele des Landes zerstört. Wir müssen von null beginnen. Ich habe momentan keine Vision der Zukunft."

Die Links zu den Themen in der Rubrik ISRAEL INTERN.

Nach langem Streit hat der US-Senat den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mike Huckabee als Botschafter in Israel bestätigt. Der Baptistenpastor und Fernsehprediger Huckabee gilt als enger Freund Israels. Er lehnt den Begriff „Palästinenser“ ab und spricht vom Westjordanland nur von „Judäa und Samaria“. Nicht verwunderlich, dass daher seine Bestätigung als US-Botschafter von heftigen Kontroversen begleitet war. Vor allem linke jüdische und muslimische Gruppen sprachen sich gegen seine Ernennung aus. Sie warfen Huckabee vor, als evangelikaler Christ religiöse Motive über diplomatische Interessen zu stellen. Die TAGESPOST und ISRAELNETZ stellen den neuen Mann in Jerusalem näher vor: "Neuer US-Botschafter in Israel war Fernsehprediger".

In einem Beitrag für die JÜDISCHE ALLGEMEINE WOCHENZEITUNG kritisiert Sarah Maria Sander die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen TV-Sender über Israel und den Nahost-Konflikt:
"Die Nachrichten über Israel und über den Gaza-Krieg sind zumindest bei ARD und ZDF von großer Einseitigkeit geprägt. Es geht nicht um eine absichtliche Verbreitung von Lügen. Das Hauptproblem ist vielmehr das Weglassen von Kontext, die selektive Darstellung von Ereignissen und die Auswahl wiederkehrender Themenfelder, die dank des häufigen Vorkommens in der Berichterstattung künstlich aufgebauscht werden."
Insbesondere und ausführlich kritisiert sie anhand mehrer Beispiele die Berichte und Reportagen der ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann und schreibt u.a.:
"Als Kriegsreporterin aus der Region verfolgt von der Tann konsequent eine einseitige Linie: Fast jeder ihrer Berichte, fast jedes Interview, das sie führt, scheint darauf abzuzielen, Israel negativ darzustellen. Interviewt werden von ihr überwiegend jene, die am Rand des politischen Meinungsspektrums stehen – am äußersten linken oder am extrem rechten. Dass diese Stimmen existieren, bestreitet niemand. Es gibt sie. Doch sie repräsentieren nur einen kleinen Teil der israelischen Gesellschaft."

Die Links in der Rubrik
ISRAEL, DEUTSCHLAND, EUROPA UND DIE WELT.

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Er also auch? Ein Zufallsfund des Historikers Thomas Gruber belegt, dass der große Verleger des Suhrkamp-Verlags Siegfried Unseld im Alter von 18 Jahren der NSDAP beigetreten ist. Ein Faktum, das selbst bisherige Unseld-Biografen nicht aufgefallen zu sein scheint, obwohl Unselds NSDAP-Mitgliedskarte im Bundesarchiv eigentlich kaum zu übersehen war. Wie ist dieser Fund einzuschätzen? Andreas Platthaus kommentiert in der FAZ, dass all die großen Namen, die Unseld bei Suhrkamp versammelt hat, durch ihre Werke einstanden für ein "politisch geläutertes, antifaschistisches Deutschland, ... also genau das Gegenteil des Nationalsozialismus." Aber "hätten all die Autoren einem Verlag die Treue gehalten, von dem bekannt geworden wäre, dass sein Chef NSDAP-Mitglied war?" Ähnlich sinniert Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:
"Ob Siegfried Unseld etwa mit Autoren seines Verlags über sein Geheimnis gesprochen hat, wird sich vielleicht noch zeigen. Wenn ja, dann hätte ein intellektuelles Kartell des Schweigens ziemlich lange dichtgehalten. Auch noch nach dem Tod. Auch nachdem es Ende der nuller Jahre eine ganze Reihe politischer Outings gegeben hatte. ... Martin Walser, seinem Verleger Siegfried Unseld engstens verbunden, war im gleichen Alter, auch mit siebzehn, der Hitler-Partei beigetreten. Kann es sein, dass man sich nie darüber unterhalten hat? Und wenn, tat man es dann mit der Einmütigkeit prominenter Nachkriegslinker, dass so etwas allenfalls eine Jugendsünde gewesen sein konnte?"
Mara Delius hält in der WELT Unselds Verdienste trotz seiner nun entdeckten NSDAP-Mitgliedschaft für "unbenommen" und weist darauf hin:
"Unseld selbst war in einem Punkt eben: ein ganz gewöhnlicher Deutscher. Wie sehr die Bundesrepublik auf solchen Paradoxien aufgebaut war, ist nachzulesen in der Literatur - nicht zuletzt in Werken, die bei Suhrkamp verlegt wurden."
Noch deutlicher bezieht der schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in der ZEIT Stellung:
"Die Feuilletons deutscher Sprache hätten größere Sorgen und die wiedervereinigte Bundesrepublik Dringenderes zu tun, als sich mit einem Fehltritt von Geistesgrößen zu befassen, der – in Unselds Fall – 83 Jahre zurückliegt. Das Exemplarische daran in Ehren – aber seine Last muss die deutsche Gesellschaft tragen und ertragen. [...] Unseld brauchte sich nicht als gewesenen Nazi zu outen, wenn er Bücher verlegte, die ein kritisches Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte nicht nur verlangten, sondern begründeten, und nicht nur durch ihre Dialektik imponierten, sondern durch Sprache und Stil. Die Bundesrepublik ist ohne den Einfluss dieser Kraft nicht denkbar und ihre Wirkung nicht ohne diesen Verleger – der bis zu seinem Tod 2002 auch der meine war."

Vor 80 Jahren, am 11. April 1945, befreite die US-Army das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Die GIs schlugen die SS in die Flucht, woraufhin die Häftlinge des Lagerwiderstands die Kontrolle über das Lager übernahmen. Einen Tag später besuchte Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, das Buchenwalder Außenlager im thüringischen Ohrdruf. Es war die erste Inaugenscheinnahme eines Konzentrationslagers durch die Amerikaner. Danach schrieb Eisenhower in sein Tagebuch: „Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.“ Der kriegserfahrene Amerikaner konnte nicht fassen, wie sich die Nazis „über die primitivsten Gebote der Menschlichkeit in skrupelloser Weise hinwegsetzten“. Sven-Felix Kellerhoff und Christoph Strack erinnern in der WELT und DEUTSCHE WELLE an die Tage rund um die Befreiung von Buchenwald. Ebenfalls in der WELT schildert Gunnar Leue die Geschichte des "Buchenwald-Liedes", einer Hymne auf das KZ, die zwei in Buchenwald inhaftierte jüdische Schlagerstars, der Librettist Fritz Löhner-Beda und der Komponist Hermann Leopoldi, schreiben mussten.
Der heute 92-jährige, in Israel lebende Naftali Fürst, Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, hat vom Freistaat Thüringen zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationlagers Buchenwald den Verdienstorden des Landes verliehen bekommen. Die bemerkenswerte Laudatio von Thüringens Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) ist in der WELT abgedruckt. Voigt plädiert dafür, Erinnerung nicht als Pflichtübung, sondern als "Prozess fortwährender Selbstprüfung" zu verstehen. U.a. sagt er:
"Der Antisemitismus kehrt nicht etwa zurück - er war nie verschwunden. Was verschwindet, ist die Zaghaftigkeit, ihn wieder sagbar zu machen. Und oft geschieht das nicht in den groben Parolen der Straße, sondern in der geschmeidigen Sprache der Relativierung, der bewussten Umdeutung, der rhetorischen Verschiebung. Wer sagt, man müsse 'auch mal die anderen Opfer sehen', will selten würdigen - er will nivellieren. Wer vom 'Schuldkult' spricht, meint nicht Auseinandersetzung, sondern Abwehr. Antisemitismus kommt nicht nur mit Springerstiefeln. Er kommt mit akademischem Duktus, mit moralischem Rigorismus, mit vermeintlicher Israelkritik. Der heutige Antisemitismus ist anschlussfähig - bis in die Mitte der Gesellschaft, selbst unter jenen, die sich für aufgeklärt halten. Er zeigt sich nicht nur in Parolen, sondern in scheinbaren Distanzierungen, in selektiver Empathie."

In einem bedenkenswerten Essay kritisiert Johannes Boie dass just in dem Moment, wo die letzten Überlebenden des Holocaust sterben und es darauf ankäme, die Erinnerung wachzuhalten und zu erzählen, die Erinnerung stattdessen durch immer neue Interpretationen, Instrumentalisierungen und Manipulationen zugeschüttet und mißbraucht werde. Boie schildert einige dieser Instrumentalisierungen, geht dabei auch kritisch auf die Rede Omri Boehms ein, die dieser in Buchenwald hätte halten sollen, und zieht schließlich das Fazit:
"Die Gedenktage des Holocaust werden zunehmend genutzt, um eigene politische Argumente anzubringen, und die Feierlichkeit der Atmosphäre wird umfunktioniert von der Ehrung derjenigen, die den Horror durchlitten haben, zur Erhebung der heutigen Redner. So ist man, 90 Jahre nach dem organisierten Massenmord, der von deutschem Boden ausging, in Deutschland in der Erinnerungskultur bei der Tagespolitik angekommen."
Dem hält er mahnend entgegen:
"Erinnerung ist bestenfalls ein Akt der geistigen Rettung der Opfer: Ihr Leiden sichtbar zu machen und sichtbar zu halten, sie nicht im Rauschen der Geschichte verschwinden zu lassen, ist die Aufgabe der lebenden Generationen."

In einer etwas längeren, sehr lesenswerten Reportage berichtet Alexander Jürgs (begleitet von eindrucksvollen Fotos) in der FAZ von einer Gruppe aus 50 Schülern, die eine Hälfte aus Deutschland und die andere aus Israel, die gemeinsam die Gedenkstätte Auschwitz besucht haben. Organisiert wurde der gemeinsame Besuch von Lehrern der Geschwister-Scholl-Schule im hessischen Bensheim. Auf israelischer Seite nahmen Internatsschüler aus der Mittelmeerstadt Netanya und aus Kfar Saba teil. Jürgs hat mit den Lehrern gesprochen, schildert die Reaktionen der Schüler, zitiert ihre Eindrücke und beobachtet, trotz aller Unterschiede und Spannungen, die es auch gibt, wie enorm schenll die israelischen und deutschen Schüler zueinander finden. Beispielhaft ein paar Eindrück auf israelischer Seite:
"Für Adi ist Deutschland heute nicht mehr 'das Land, das unsere Vorfahren gequält hat', sondern 'das Land, das an Israels Seite steht'. Seit dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober sei der Judenhass überall auf der Welt gewachsen, sagt er. Dass Deutschland Israel weiter unterstütze, würde dort deutlich wahrgenommen. Und Hilla sagt, dass die Deutschen in Israel noch immer oft als 'das Böse schlechthin' dargestellt würden. 'Jetzt merke ich: Es gibt ein anderes Deutschland, von dem ich bislang nicht gehört habe.'"

Louis Lewitan, 1955 in Lyon geboren, ist ein deutsch-französischer Psychologe, der als Coach und Berater im Bereich des Krisenmanagements tätig ist. Als Sohn jüdischer Eltern kam er im Alter von elf Jahren nach München. Dort studierte er später klinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Durch Recherchen zu Leben und Tod von ermordeten Vorfahren kam er zusammen mit Stephan Lebert auf die Idee zu dem nun vorliegenden Band „Der blinde Fleck“, der auf ungewöhnlchen Recherchen beruht: Geprägt durch eine Katastrophe, die sie nicht selbst erlebt haben, haben viele Nachkommen der Täter, Komplizen, Handlanger, Mitläufer und Opportunisten seelische Wunden, deren Ursachen sie oft nur vage kennen. In vielen Familien sind bleiernes Schweigen, verdrängte Erinnerungen, wohlgehütete Geheimnisse, hartnäckige Lügen allgegenwärtig – ein erdrückendes Erbe, dessen Gift bis heute wirkt. Doch nun bricht dieser Panzer des Schweigens auf: Da sie keine Konfrontation mit den Großeltern oder Eltern mehr fürchten müssen, recherchieren immer mehr Menschen ihre Familiengeschichte und spüren nach, wie sich diese auf die eigenen Lebensmuster ausgewirkt hat. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU hat mit Lewitan ein eindrucksvolles Interview geführt: „Die Zeit des Schweigens geht zu Ende“.

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Der 41-Jährige Benjamin Haggerty alias Macklemore gehört zu den bekanntesten US-Rappern und positioniert sich gerne mit politischen Aussagen - und eckt damit auch an. Er kritisiert etwa soziale Ungerechtigkeit, Polizeigewalt - und hat sich zuletzt mehrfach zur Situation im Gazastreifen geäußert. Im Juli soll Macklemore nun als Headliner beim „Deichbrand“-Festival bei Cuxhaven an der Nordsee auftreten, das jedes Jahr rund 60 000 Besucher anzieht. Auch ein Auftritt beim Elektro-Festival „World Club Dome“ im Frankfurter Waldstadion ist für Juni angekündigt, ein weiteres Gastspiel beim Gurtenfestival bei Bern in der Schweiz ist geplant. Doch nun stehen die Veranstalter alle unter Druck. U.a. die Jüdische Gemeinde Frankfurt und der Zentralrat der Juden in Deutschland werfen dem 41-jährigen Rapper „antisemitische Propaganda“ vor: er verharmlose den Holocaust und kritisiere Israel einseitig. Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, nennt die geplanten Konzerte „unerträglich“ und sein niedersächsischer Amtskollege fordert, den Auftritt in Cuxhaven abzusagen. Allerdings gibt es auch differenzierende Gegenstimmen, so etwa von Samuel Stern, studierter Politologe und Leiter des "Kooperationsverbund gegen Antisemitismus" bei der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, der in einem ausführlichen Interview mit dem HESSISCHEN RUNDFUNK für andere Bildungsmaßnahmen plädiert und daruaf hinweist: "Auftrittsverbote bringen Arbeit gegen Antisemitismus nicht weiter".

Judenfeindliche Graffiti, pro-palästinensische Demonstrationen, Parolen und vereinzelt sogar körperliche Übergriffe: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel gibt es laut einer neuen Studie weiter antisemitische Vorfälle an den deutschen Hochschulen. Dennoch - so das Fazit einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegebene und von der Uni Konstanz umgesetzte Umfrage - bleiben antisemitische Haltungen unter Studierenden dabei weiterhin auf niedrigem Niveau. Bundesforschungsminister Cem Özdemir hat am 9. April diese Ergebnisse der Schnellbefragung zu Antisemitismus an Hochschulen vorgestellt. Erstmals wurden neben den Studierenden auch Hochschulleitungen befragt. Konkret: "nur" rund ein Sechstel, was etwa sieben Prozent der Studentinnen und Studenten in Deutschland ausmacht, tendiert zu antisemitischen Einstellungen oder ist antisemitisch eingestellt: "Antisemitismus und pro-palästinensische Proteste an deutschen Hochschulen : Befragungsergebnisse bei Studierenden und Hochschulleitungen".

Um das Ausmaß antisemitischer Manifestationen an deutschen Universitäten nach dem 7. Oktober geht es auch in einem interessanten Interview mit dem Historiker Wolfgang Kraushaar in der JUNGLE WORLD. Kraushaar spricht dort über die Kontinuitäten des Israel-Hasses in der Linken, die Begriffsverwirrung in der Debatte über den Gaza-Krieg und das Fehlen einer Friedensperspektive in der Regierung unter Benjamin Netanyahu. Kraushaar sieht die Wurzeln des aktuellen akademischen Antisemitismus, wie er in den Hochschulen nach dem 7. Oktober spektakulär zum Ausdruck kam, bereits in der ambivalenten Haltung der 68-Generation angelegt, die er u.a. wie folgt beschreibt:
"(Herbert) Marcuse wurde von der studentischen Linken ja geradezu vergöttert. Mit »Der eindimensionale Mensch« hatte er das maßgebliche Buch zur Ana­lyse dessen vorgelegt, was man damals als »Spätkapitalismus« bezeichnete. Und im Juni 1967 hielt er im Auditorium Maximum der FU Berlin Vorträge über das »Ende der Utopie«. In einer der anschließenden Diskussionen forderte er dazu auf, dass man sich mit dem Staat Israel im Angesicht von dessen Gefährdungen solidarisieren müsse. Niemand ging auf Marcuses Israel-Vorstoß ein, auch Rudi Dutschke nicht; man hat das Thema einfach zu ignorieren versucht. Stattdessen sprach man lieber über die Dritte Welt, den Vietnam-Krieg und anderes mehr. Im Grunde war man innerhalb der Neuen Linken gespalten. Eine Minderheit nahm die Positionen von Marcuse oder Jean Améry ein, eine Mehrheit aber hatte sich damals bereits davon verabschiedet, sich mit Israel noch weiter solidarisieren zu wollen. Kurzum, es gab bei der Neuen Linken eine ausgeprägte Indifferenz gegenüber Israel und implizit wohl auch gegenüber dem Thema Antisemitismus."

Die Links zu den Themen in der Rubrik
ANTISEMITISMUS.

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Was steht eigentlich im Koalitionspapier der mutmaßlich nächsten Regierung aus SPD und CDU zu den Themen Religion, Kirche und Glauben? Oliver Marquart hat das gut 140-Seiten-Papier für das SONNTAGSBLATT darufhin überprüft und hat insbesondere was den interreligiösen Anspruch betrifft ordentlich blinde Flecken festgemacht. Zwar werden das christlich-jüdische Verhältnisch explizit thematisiert und gewürdigt. Das Verhältnis zum Islam hingegen werde hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr behandelt. Und was weitere Religionen betrifft, so seien diese schlicht ausggeblendet: "Was im Koalitionsvertrag von Union und SPD zu Religion und Kirche steht – und was nicht".

In den Wochen vor Ostern wird in den Kirchen meist ein besonderes Musikprogramm aufgerührt. Etwa die Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Bei aller Raffinesse des kompositorischen Vermögens gibt es bei Johann Sebastian Bach freilich auch schmerzliche Fragezeichen. Denn gerade in seinen Passionen werde "wider die Jüden" auch eine gehörige Portion Antijudaismus transportiert, so ist vielfach in christlich-jüdischen Kreisen zu hören. Aktuell wurde die Diskussion angefeuert vom niedersächsischen Antisemitismus-Beauftragten Gerhard Wegner, der einen zeitweiligen Aufführungsstopp der Passionsmusiken von Bach ins Spiel gebracht hat. Auch seien Aufführungen ohne vorherige Hinweise verantwortungslos, fügte er hinzu. U.a. Jan-Heiner Tück, Professor am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien, widerspricht ihm in einem Beitrag für COMMUNIO:
"Aber ein Problem schafft man nicht aus der Welt, indem man Verbote ausspricht, Zensuren vornimmt oder kanonische Texte umschreibt. Die Forderung, die Aufführung von Bachs Passionsmusik interimistisch auszusetzen, ist falsch. In einer Verlängerung solcher Zensuroptionen müsste man auch die Rezitation des Johannesevangeliums im kirchlichen Gottesdienst untersagen, es modelliert ja die Gegnerschaft zwischen dem Juden Jesus und "den Juden" besonders scharf heraus und bemüht sogar den Topos der "Synagoge des Satans".

Ein prominentes neutestamentliches Ereignis innerhalb der Karwoche ist ohne Frage die sogenannte Tempelreinigung. Alle vier Evangelien berichten davon, dass Jesus Christus im Jerusalemer Tempel die Bänke der Geldwechsler und Opfertierhändler umgestossen habe. Im Johannesevangelium mit dem Ausruf «Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus!» (Joh 2,16), im Markusevangelium sagt Jesus «Steht nicht geschrieben ‹Mein Haus soll ein Bethaus heissen für alle Völker›? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.» (Mk 11,17). Dass Jesus im Tempel von Jerusalem gewalttätig wurde, entspricht kaum der Vorstellung eines friedfertigen Messias. Deswegen sorgt die Szene in den Evangelien für Irritationen und Fehlinterpretationen - und ist auch zur Basis antijüdischer Interpretationen geworden. In einem exegetischen Beitrag für das schweizer Portal KATH.ch unternimmt Francesco Papagni ausgehend vom damaligen Jerusalemer Tempelkult eine Auslegung des Ereignisses, die die Fraglichkeit des Begriffs "Tempelreinigung" verdeutlicht: "Als Jesus Bänke von Geldwechslern umstiess – Die «Tempelreinigung» richtig verstanden".

Der populäre arabischsprachige Youtube-Kanal "Muslim Affairs" hat gut 1,6 Millionen Abonnenten - und in dem Kanal erzählen Muslime, weshalb sie den Westen verlassen, um in ein arabisches Land zurückzukehren. Das berichtet Kacem El Ghazzali in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und spricht von "freiwilliger Remigration", weil "viele traditionelle Muslime genau jene Kritik an westlicher 'Dekadenz'" teilten, "die auch Neue Rechte und Rechtsextreme umtreibt". Anders gesagt: diese konservativen Muslime flüchten vor «küssenden Frauen» und dem gottlosen Westen:
"Die Testimonials dieser muslimischen Remigranten strotzen vor Hass auf die offene Gesellschaft, der sie ihr Aufenthaltsrecht verdanken. 'Der Westen ist das Paradies des Teufels', erklärt ein Mann, der Finnland für den Irak verließ. Seine Sprache ist von religiöser Inbrunst durchdrungen, musste er doch mit ansehen, wie 'zwei Frauen sich in der Öffentlichkeit vor den Augen der Kinder geküsst haben'. Blasphemie! Eine Frau berichtet, sie habe den Westen 'aus Angst vor der intellektuellen Entführung meiner Kinder' verlassen. Sie schreibt: 'Die Frau im Westen hat keinen Wert. Und die Menschen haben keine Moral, Männer heiraten Männer, Frauen heiraten Frauen.' ... Ein Familienvater, der nach dreißig Jahren in Europa nach Mauretanien zurückkehrte, erinnert sich mit Grauen an das deutsche Bildungssystem, in dem sich neunzig Prozent des Unterrichts um Homosexualität drehe. Seine Abscheu gipfelt in der Vorstellung, seine Kinder könnten westliche Werte verinnerlichen."

Die Links zu den Themen in der Rubrik INTERRELIGIÖSE WELT.

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In der TAZ erinnert Yelizaveta Landenberger an die jiddische Zeitschrift "Sovetish heymland", die dreißig Jahre lang in der ehemaligen Sowjetunion erschien. 1961 während der Tauwetterperiode nach den stalinistischen Repressionen gegründet, denen auch viele jüdische Intellektuelle zum Opfer gefallen waren, wurde sie zu einer Plattform für diejenigen jiddischen Autor:innen, die den Holocaust und Stalin überlebt hatten. Als die Sowjetunion zerfiel erschien 1991 die letzte Ausgabe und die meisten Jiddisch-sprachigen emigirierten: "Sowjetische Heimat".

Die 1967 in New York geborene Schriftstellerin und Hebräisch- und Jiddischwissenschaftlerin Dara Horn hat für ihre Reportagen u.a. für ›Newsweek‹, ›Science‹ und ›Time‹ erhielt bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Außerdem schreibt sie Romane (zwei davon sind ins Deutsche übersetzt) und veröffentlicht Essaybände, wie etwa die 2021 veröffentlichte Essaysammlung «People Love Dead Jews» (2021), eines der wohl meistdiskutierten jüdische Bücher der letzten Jahre. In der schweizer-jüdischen Wochenzeitung TACHLES stellt Andrew Silow-Carroll die Autorin näher vor, die zuletzt ein "verrücktes Pessach-Kinderbuch" geschrieben hat. Vor allem erfährt man aber auch mehr von dem vieldiskutierten Vorgängerband, der leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. In «People Love Dead Jews» stellt Horn die These auf, dass die Welt in ihrer Faszination für die Art und Weise, wie Juden litten und starben, die Art und Weise, wie sie tatsächlich lebten und leben, entweder übersieht oder abwertet. Letztlich würden Juden dadurch zu einer fremden Abstraktion:
"Es gibt 29 Staaten in diesem Land, in denen die Menschen gesetzlich verpflichtet sind, in der Schule zu lernen, dass Juden Menschen sind, die ermordet wurden», sagte sie und bezog sich dabei auf die Vorschriften zur Holocaust-Erziehung. «Es gibt keinen einzigen Staat in diesem Land, in dem man lernen muss, wer Juden sind? Was ist Israel? Was zum Teufel haben sie mit dem Nahen Osten zu tun? Wir haben das an TikTok ausgelagert."

Bildende Kunst, die sich kritisch der Welt zuwendet, und das ultraorthodoxe Judentum sind eigentlich unvereinbar. Das freilich beides etwa mitten in Jerusalem zusammenkommen kann, belegt die "Art Shelter Gallery", die der erste und derzeit einzige Raum für bildende Kunst für eine ultraorthodoxe Community ist und sich mitten in einem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem befindet. Seit 2017 wird sie von der Noa Lea Cohn geleitet und präsentiert aktuelle Kunst. So veranstaltet die Gallery zB. seit fünf Jahren eine Comictagung. Wie das alles mit der ultraorthodoxen Community zusammenpasst schildert Nicholas Potter in einer Reportage für die TAZ: "Freie Liebe".

Der Schriftsteller Mikolaj Lozinski erzählt in seinem Roman "Stramer" von einer jüdischen Familie im Polen der 1930er-Jahre. Sensibel und mitreißend erzählt er von einer einfachen jüdischen Familie, von ihrem Alltag, ihren Hoffnungen, Träumen und Reibereien – und von einer berührenden Verbundenheit in sich verdunkelnden Zeiten. Lennart Laberenz hat den Roman für DIE ZEIT gelesen: "Was hätte sein können".

Die Links zu den Beiträgen in der Rubrik JÜDISCHE WELT

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Öffentliche Bekundungen von Religiosität sind bei deutschen Politikern kaum vorstellbar. Ganz anders in den protestantisch geprägten USA, wo allerdings auch katholische Politiker öffentlich keinen Hehl um ihre Kirchenzugehörigkeit machen. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung gehört der katholischen Kirche an. Das sind rund 75 Millionen Menschen. Anders als in Deutschland erodiert das kirchliche Leben nicht rasant. Für die Vitalität des amerikanischen Katholizismus gibt es mehrere Gründe, die Benjamin Dahlke, Professor für Dogmatik an der Katholischen Universität Eichstätt, in einem Beitrag für die FAZ erläutert: "Wie der Katholizismus die Vereinigten Staaten prägt".

"Die Hände in Unschuld waschen", "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach", "Ehe der Hahn kräht ..." oder "Möge dieser Kelch an mir vorübergehen": Das sind alles Redewendungen, die in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen sind - und die alle ihren Ursprung in den Oster-Evangelien haben. Was bedeuten sie uns heute? Darauf gibt Christoph Arens in einem Beitrag für DOMRADIO Antworten: "Von Pontius zu Pilatus".

Die Anzahl katholischer Priester ist hierzulande seit Jahren rückläufig – dennoch ist dieses Kirchenamt allein Männern vorbehalten. Dagegen begehren einige Frauen auf. Nicht nur in Deutschland fühlen auch sie sich zum Priesteramt berufen und setzen sich dafür ein, dieses ausüben zu dürfen. Mit solchen Rebellinnen befasst sich die Arte-Dokumentation "Frauen im Priesteramt – Verbotene Berufung", über die Wolfgang Wittenburg auf KATHOLISCH.de informiert und die in der Arte-Mediathek weiterhin zu sehen ist: "Dokumentation zu Frauen mit Priesterwunsch: Rebellinnen vor dem Herrn".

Die Links dazu in der Rubrik CHRISTLICHE WELT.

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Das Konzept des autoritären Charakters und die These von der Schuldabwehr bestimmen seit Jahrzehnten den Diskurs über Antisemitismus in Deutschland. Aber sind sie überhaupt noch hilfreich und vor allem: zeitgemäß? In ihren aufsehenerregenden Adorno-Vorlesungen, die nun als Buch vorliegen, legt die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau aus psychoanalytischer Perspektive dar, warum das nicht der Fall ist - und rückt damit eine "Perspektive ins Zentrum, die uns verloren gegangen ist", wie Jakob Hayner in seiner Rezension für die WELT meint: "Was die Psychoanalyse über den Judenhass weiß".

Der Link zur Buchvorstellung in der Rubrik ONLINE-REZENSIONEN.

Dies alles und noch viel mehr wie üblich direkt verlinkt, ergänzt von aktuellen FERNSEH-TIPPS sowie einschlägigen ONLINE-REZENSIONEN im heutigen COMPASS.


Einen angenehmen Tag wünscht


Dr. Christoph Münz

COMPASS

redaktion@compass-infodienst.de

(Editorial zusammengestellt unter Verwendung des Teasermaterials der erwähnten Artikel)



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